Samstag, 7. Dezember 2013

Innenansichten des Stromkonzerns RWE

Dem Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk RWE, einstmals der Stolz des Ruhrgebiets, geht es wirtschaftlich schlecht. Es hat 35 Milliarden Euro Schulden angehäuft, mehr als jeder andere deutsche Energieversorger (EVU); bei E.ON sind es "nur" 33 Milliarden. Der Börsenkurs ist stark gefallen und wer jetzt noch RWE-Aktien kauft, sollte sich des Risikos bewusst sein. Wegen der Überangebots an Ökostrom sind die Preise an der Leipziger Strombörse stark gefallen; ein Drittel der RWE-Kraftwerke verdienen nicht einmal ihre Kapitalkosten. So verwundert es nicht, dass bei RWE bereits über den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung nachgedacht wird.

Dabei kann der Konzern auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Einige Facetten der Gründerjahre will ich in diesem Blog aufrollen und dazu an den erstaunlich zögerlichen Eintritt des RWE in die Kernenergie erinnern.


Die Urväter Stinnes und Thyssen

Das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG wurde 1898, also vor 115 Jahren, gegründet. Richtig aufwärts ging es mit dem RWE allerdings erst als 1902 Hugo Stinnes und August Thyssen dort die Führung übernahmen. Sie waren kongeniale Unternehmerpersönlichkeiten und bezogen von Anbeginn die umgebenden Kommunen (wie Mühlheim, Gelsenkirchen etc..) in ihre Geschäfte mit ein. Im Jahr 1910 hatten diese Gemeinden erstmals die Mehrheit der RWE-Aufsichtsratssitze, aber Stinnes und Thyssen liessen sich die Unternehmensführung nicht aus der Hand nehmen. Dabei waren sie vom Charakter her total verschieden. Hugo Stinnes, ein prüder Protestant, sorgte patriarchalisch für seine Frau (eine gebürtige Wagenknecht, die 101 Jahr alt wurde) und die sieben Kinder; August Thyssen hingegen, nur 1,54 gross und geschiedener Katholik, hatte eine Vorliebe für dralle Damen und derbe Witze.

Kostenbewusst waren beide. Thyssen schrieb beispielsweise an seine Direktoren: "Ich bitte die Herren, zur nächsten Sitzung einige Butterbrote mitzubringen, damit wir durch das Mittagessen keine Zeit verlieren". Stinnes pflegte als Aufsichtsratsvorsitzender die Generalversammlung mit den Tagesordnungspunkten Geschäftsbericht, Dividende und Entlastung innerhalb einer Minute - ohne Erörterung - zu absolvieren. Immerhin verkündete er zum Schluss: "Ich schliesse die Versammlung, die Herren Aktionäre lade ich zu einem bereitstehenden Frühstück ein".

Das Deutsche Reich verlor zwar 1918 den Ersten Weltkrieg, aber das RWE konnte dank der Belieferung der Rüstungsindustrie seinen Stromabsatz von 290 auf 800 Millionen Kilowattstunden steigern und dabei prächtige Gewinne machen. Nach Kriegsende ahnte Stinnes, dass eine Inflation kommen würde und stellte sich entsprechend darauf ein: er kaufte Sachwerte (Firmen, Aktien, Rohstoffe) auf Kredit und zu niedrigen Zinsen, hielt aber andererseits alle Guthaben seines verschachtelten Unternehmens in Devisen. Der Wertverlust der Mark eliminierte die Kreditforderungen, der Devisenwert steigerte sich umgekehrt proportional. Kein Wunder, dass Stinnes zum grössten Inflationsgewinnler und zum verhasstesten Kapitalisten der Weimarer Republik wurde.

Aber im Jahr 1924 ereilte Hugo Stinnes eine schwere Krankheit und er starb im Alter von 54 Jahren. Noch auf dem Sterbebett schärfte er seinen Söhnen ein: "Denkt daran: Was für mich Kredit ist, sind für euch Schulden. Eure Aufgaben wird sein: Schulden bezahlen, Schulden bezahlen, Schulden bezahlen." Aber seine noch nicht 30 Jahre alten Söhne hielten sich nicht an den Rat des Vaters, sondern machte weitere Schulden. Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Stinnes zerfiel das auf Kredit zusammengezimmerte Imperium. Nur das RWE überlebte.


Der Atomstreit zwischen Mandel und Meysenburg

Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es bei RWE an einer unumstrittenen Führungspersönlichkeit wie Stinnes. Bis 1989 besass das gewaltige Unternehmen keinen Vorstandsvorsitzenden, ja, bis zum Ende der sechsziger Jahre gab es nicht einmal reguläre Vorstandssitzungen, obwohl der Vorstand bereits acht Mitglieder umfasste. Wie Helmut Meysenburg, RWE-Vorstand von 1957 bis 1974, später berichtete, "reichte es, wenn man morgens miteinander telefonierte". Erst 1989 installierte man einen Vostandsvorsitzenden mit Friedhelm Gieske (1989 - 94). Auch repräsentativer Aufwand gehörte nicht zum Stil bei RWE: der technische Vorstand Heinrich Schöller kam noch 1960 in einem VW-Käfer zum Dienst. Den Aufsichtsrat dirigierte der charismatische Herrmann Josef Abs als Vorsitzender von 1957 bis 1977. So formlos war damals der Führungsstil eines Unternehmens im Innern, das nach aussen schroff organisiert wirkte.

Kein Wunder, dass sich das bedächtige und risikoscheue RWE erst nach langem Zögern auf das Abenteuer der Kernenergie einliess. Man gründete 1955 eine Kerntechnische Abteilung und besetzte sie mit Heinrich Mandel, der als "Flüchtling" 1948 zum RWE gekommen war. Mandel, in Prag geboren, war eine ungewöhnliche Erscheinung bei RWE. Mit seinen beiden Doktortiteln - später kam noch der Honorarprofessor dazu - besass er einen wissenschaftlichen Habitus. In seinen Reden berührte Mandel selten RWE-spezifische Interessen, zumeist sprach er über europaweite, ja, globale Energieperspektiven, womit er dem Karlsruher Brüterprojektleiter Wolf Häfele sehr nahe kam.

Mit dieser abgehobenen Diktion stiess Mandel auf Widerstand beim RWE-Vorstand Helmut Meysenburg, der für das Ressort Stromwirtschaft zuständig war. Dieser sah in den Energieprognosen von Dr. Dr. Mandel nur "Kurvenmalereien" ohne Bezug zur Praxis. Meysenburg hielt den Erwerb der Mehrheitsbeteiligung an dem Braunkohlekraftwerk Neurath für viel wichtiger und wusste dabei auch den AR-Vorsitzenden Abs auf seiner Seite. Trotzdem gelang es Mandel die Zustimmung zum Bau des 15-MWe-Kernkraftwerks Kahl zu erreichen. Als dieses 1961 ohne grössere Terminverzögerungen und ohne Überschreiten der Plankosten in Betrieb ging, stieg Mandel zum stellvertretenden Vorstandsmitglied auf.




Das RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath

Aber beim darauffolgenden 250-MWe-Kraftwerk Gundremmingen, das zusammen mit dem Bayernwerk errichtet wurde, lief manches schief. Der Siedewasserreaktor war bei seiner Fertigstellung 1966 der grösste Reaktor der Welt. Aber anders als bei Kahl gab es diesmal Terminverzögerungen und Mehrkosten. Darüberhinaus kam es zu Auseinandersetzungen mit der Reaktorsicherheitskommission wegen erheblicher betrieblicher Fehler. (Diese Diskussionen wiederholten sich später bei Biblis A und Mühlheim-Kärlich, was RWE bei den Genehmigungsbehörden den Ruf beträchtlicher Arroganz eintrug). Meysenburg bekam wegen des holprigen Projektablaufs bei Gundremmingen wieder Oberwasser bei RWE und revanchierte sich, indem er Mandel in der Folge den Aufstieg zum ordentlichen Vorstandsmitglied volle sieben Jahre lang (bis 1968) blockierte. Die Braunkohle war wieder wichtiger geworden.

Aber Mandel konnte mächtige Verbündete in der Bonner Ministerialbürokratie gewinnen, insbesondere der Forschungsminister Gerhard Stoltenberg förderte seine Pläne zum Ausbau der Kernenergie. Um 1968 vollzog sich bei RWE abrupt eine Kurswende, mit der sich das Unternehmen an die Spitze der deutschen Kernenergieentwicklung stellte. Mandel wurde zum ordentlichen Vorstandsmitglied ernannt und legte sogleich das Projekt Biblis A auf Kiel. Es war zu einem Gutteil als "Gegenprojekt" zu einem Kernkraftwerk der BASF geplant, welches damals in der Diskussion war. Mit diesem Schachzug wollte man die Ludwigshafener Firma von ihren Atomplänen abbringen, was schliesslich auch gelang.

Durch kluges Verhandeln mit dem Reaktoranbieter Siemens gelang es Mandel für Biblis A einen moderaten Festpreis von 850 Millionen Mark herauszuschlagen, was sich in der Rückschau als "Schnäppchen" entpuppte. Bei Siemens ging damals der Spruch um: "Bei Siemens stöhnt man über jeden grossen Auftrag, den man von RWE erhält - aber über diejenigen, welche man nicht erhält, stöhnt man noch viel mehr." Beim Folgeprojekt Biblis B egalisierte Siemens seine Verluste aus Biblis A, indem es in den Vertrag Preisgleitklauseln einfügte, welche die Endkosten auf 1.200 Millionen steigen liess. Vorstand Meysenburg grollte im Hintergrund, "dass der Sprung in den Investitionskosten alle Degressionshoffnungen überspielt hat". Aus seiner Sicht versprachen neue, noch grössere Kernkraftwerke keine Senkung der Stromkosten mehr.

Im Januar 1979 starb Professor Mandel im Alter von 59 Jahren. Am Misserfolg beim Mühlheim-Kärlich und dem Erfolg des 1.400-MWe-Kernkraftwerks Emsland war er nur noch partiell beteiligt. Noch zu nennen ist sein Engagement um die Brennstofffirma NUKEM, die RWE seit 1965 etwa zu einem Drittel gehörte. Typisch für die damalige "Sparsamkeit" der grossen Mutter in Essen ist die Tatsache, dass Nukem nur mit einem Startkapital von vier Millionen ausgestattet wurde und viel staatliches Geld aquirieren musste.  Daher kursierte damals der Witz, dass die Abkürzung NUKEM folgendes bedeute:

" Nur unter keiner Eigenbeteiligung möglich".