Sonntag, 31. Januar 2010

Fischen nach Neutronen

Der Forschungsreaktor FRM in Garching war vom Typ her zwar ein sogenannter Schwimmbadreaktor, aber darin zu plantschen wäre ein kurzes und letales Vergnügen gewesen. Denn auf dem Grunde des etwa zehn Meter tiefen Wasserbeckens befand sich der Kernreaktor, bestehend aus zwei Dutzend (heftig strahlender) Brennelemente. "Reaktorherz" war damals die Bezeichnung. Umgeben war das Wasserbecken von einem Betonklotz mit meterdicken Wänden. Von oben konnte man durch das (abschirmende) Wasser auf den Reaktor blicken, der im Betrieb ein mystisch-bläuliches Licht ausstrahlte.

Der FRM erzeugte keinen Strom, wie spätere Kernkraftwerke, sondern war eine vielbegehrte Strahlenquelle für die Physiker, Chemiker und Ingenieure der Münchener Technischen Hochschule (TH) und darüberhinaus. Im wesentlichen produzierte er Neutronen, also neutrale Wasserstoffatomkerne und Gammastrahlen, eine Art harter Röntgenstrahlung. Über Mangel an Kundschaft brauchte ich mich - damals Leiter der Bestrahlungsgruppe - nicht zu beklagen. Die Physiker kamen in Scharen und legten mir fast alle Elemente des Periodensystems auf den Tisch, die unter Neutronen zu Isotopen "aktiviert" werden sollten. Die Radiochemiker wünschten sich trägerfreies Jod und gingen mich um sogenannte Szilard-Chalmers-Bestrahlungen an. Die Raketeningenieure (gab es damals schon) liessen Plutonium zur Erzeugung von Curium für ihre Isotopenbatterien bestrahlen. Vom Max-Planck-Institut wurden Meteorite für Aktivierungsanalysen zugesandt. Ein Biologieprofessor wollte gar lebende Meerschweinchen am Reaktorkern deponieren. Ich lehnte ab; wir einigten uns auf Zellkulturen. Sogar die Münchener Kripo und einen stadtbekannten Juwelier hatte ich als Klienten; doch darüber später.



Der Reaktorblock des FRM
(schematische Darstellung)

Unter den Maschinenbauern war die Firma Mercedes-Benz ein guter Kunde. Von ihr kamen jahrelang umfängliche Kolbenringe, Zylinderbüchsen und Nockenwellen sowie andere Komponenten ihrer Luxuskarossen. Sie wurden im Neutronenfluss des FRM aktiviert, nach Untertürkheim zurückgesandt und dort wieder in den Motorenverbund eingebaut. Die abgeriebenen Metallteilchen wanderten ins Schmieröl und mit einem Detektor konnte dieser Verschleiss verhältnismässig leicht gemessen werden. Durch Verwendung verbesserter Metallpaarungen wurde bei künftigen Modellen der Abrieb reduziert, was ein wesentlicher Grund dafür war, dass die Laufzeit der Motoren von damals 100.000 auf heute 300.000 Kilometer gesteigert werden konnte.

Im landwirtschaftlichen Bereich brachten die Saatgutzüchter Getreide, Kartoffeln, Obst und Blumensamen, die wir mit Gammastrahlen bzw. schnellen Neutronen bestrahlen sollten. Bei jeder Bestrahlung entstanden bis zu 10.000 Mutationen, die anschliessend selektiert und mit anderen Sorten gekreuzt wurden. Ich bin überzeugt, dass ein Gutteil der heutigen Nutzpflanzen auf Mutationszüchtungen via Kernstrahlung beruht. Wenn die "Grünen" in den 80er Jahren mit ihren - ach so ökologischen - Jutetaschen posierten, dann hat mich das nur amüsiert. Denn ich wusste, dass gerade die Jute durch Bestrahlung in indischen Atomreaktoren auf ihre heutigen Eigenschaften hingetrimmt worden war.



Das Angelschnurverfahren

Angesichts dieser Fülle an Bestrahlungsaufträgen (mehr als tausend pro Jahr) mag es verwundern, wenn ich bekenne, dass der FRM gar nicht für Bestrahlungen ausgestattet war. Er kam als blanke Strahlenquelle - ohne jegliche Zusatzeinrichtungen - aus den USA, was auch seinen bescheidenen Preis erklärte. Die genannten Bestrahlungsproben mussten von oben zehn Meter tief durch das Wasser abgesenkt und relativ genau am Reaktor positioniert werden. Wir bewerkstelligten dies auf eine ähnlich simple Weise wie ein Fischer, der Beute am Grund eines Sees machen will: mit einer Angel! Bei dem sogenannten Angelschnurverfahren wurde die Bestrahlungsprobe wasserdicht in Folie verpackt und an einer käuflichen Angelschnur befestigt. Zur Kompensation des Auftriebs war darunter noch ein entsprechend schweres Bleigewicht befestigt. In der Regel widerstand die Schnur der Reaktorstrahlung etwa eine Stunde lang; es empfahl sich also, die Probe rechtzeitig wieder mit der Angelschnurrolle hochzuziehen. In einer Absetzwanne, etwa einen Meter unterhalb des Wasserspiegels, wurde sie dann einige Zeit zum kontrollierten Abklingen gelagert, bis der Operateur sie (fernbedient) verpackte und dem Kunden aushändigte.

Nach und nach kamen weitere Bestrahlungsverfahren hinzu. Zum Teil wurden sie von ausländischen Reaktoren übernommen und an den FRM angepasst. Vom Kernforschungszentrum Harwell in England erhielten wir die sogenannten Harwellkapseln samt Manipulatoren. Vorausetzung für diesen know-how-Transfer war ein Besuch des deutschen Bundesatomminister Franz Joseph Strauss beim dortigen Chef für die Nuklearforschung, wobei Strauss sogar der britischen Königin Elisabeth II vorgestellt wurde.


Die britische Königin Elisabeth II begrüsst Atomminister Franz Joseph Strauß
(mitte: Sir Edwin Plowden, Chef des Harwell-Zentrums)

Bleibt noch nachzutragen die Sache mit der Kripo und dem Juwelier. In München war ein stadtbekannter Opernsänger unter dubiosen Umständen gestorben, aber weder die Kriminalpolizei noch die Pathologen konnten die Todesursache eindeutig feststellen. Da meldete sich ein junger Beamter aus dem Spurendezernat zu Wort, der gehört hatte, dass "die Reaktorleute in Garching" geringste Metallgehalte in den Haaren feststellen konnten. In der Tat war dies für uns ein Klacks. Ich bestrahlte ein kleines Haarbüschel und die Kollegen von der Radiochemie machten eine Aktivierungsanalyse. Der Thallium-Peak war eindeutig: er deutete auf langsame Vergiftung mit Rattengift hin. Die Ehefrau des verblichenen Opernsängers wurde ins Kreuzverhör genommen, sie gestand unter Tränen und verbrachte fortan einige Jahre (ohne ihren heimlichen Geliebten) im Landsberger Zuchthaus.

Der (unehrliche) Juwelier hatte mehr naturwissenschaftliche Kenntnisse, wurde aber trotzdem gefasst. Er wusste wohl, dass gewisse Gläser sich unter harter Röntgenstrahlung verfärben und vermutete das Gleiche bei Diamanten unter Gammastrahlung. So brachte er mir eines Tages etwa zwei Dutzend gelblicher Brillanten von ansehnlicher Grösse, deren Einschlüsse aber bereits ohne Lupe zu sehen waren. Sicherlich hatten sie nur einen geringen Wert; der Juwelier bat mich jedoch, sie für einige Minuten dem energiereichen Gammafluss am Reaktorkern auszusetzen. Gesagt, getan. Zu meiner (damaligen) Überraschung hatten die Brillanten aber nach der Bestrahlung ihre Farbe gewechselt. Sie waren schöner geworden; statt mattgelb leuchteten sie nun intensiv grün und blau. Wie Smaragde und Saphire.

Ein Jahr später konnte ich die Fortsetzung dieser Geschichte in der "Süddeutschen Zeitung" nachlesen. Der Juwelier hatte die bestrahlten Diamanten als als superseltene Edelstein-Exoten für ein Heidengeld an einige bekannte Filmstars weiter verkauft. Die Sache flog allerdings auf, als die Schönen anlässlich der Filmfestspiele in Cannes auf der Promenade La Croisette flanierten und mit grossen Schrecken feststellen mussten, dass ihre Klunker immer mehr die intensive Farbe einbüssten, bis zum Schluss nur noch das (anfängliche) schmutzige Gelb übrig blieb. Physikalisch gesprochen, hatte das starke mediterrane Ultraviolettlicht die Absorptionsbanden der Farbzentren im Festkörper Diamant zerstört. Übrig geblieben war lediglich die ursprüngliche Farbe der Einschlüsse.

Auch hier schlug der Arm des Gesetzes zu und der Juwelier wurde wegen Betrugs zu einigen Jahren Gefängnis verdonnert.

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