Sonntag, 12. Dezember 2010

Das Grossprojekt Kalkar und seine Politiker

Grossprojekte im Milliardenbereich sind riskant, weil sich ihre Realisierung über viele Jahre, manchmal gar Jahrzehnte, erstreckt. Das gilt besonders, wenn sie nicht privatwirtschaftlich, sondern staatlich finanziert sind, womit sie dem Wohl und Wehe der Parteien und ihren schwankenden Koalitionen ausgesetzt sind. Ein Beispiel ist Stuttgart 21, das von 1994 über 15 Jahre hinweg von allen Parteien im Stuttgarter Landtag gestützt wurde. Als 2009 die ersten Demonstrationen aufzogen, kippten die Grünen ganz und die Roten halb um, mit dem Ergebnis, das allgemein bekannt ist.

Ein Grossprojekt der frühen siebziger Jahre war der Schnelle Brüter in Kalkar, ein Kernkraftwerk, das auch als Schneller natriumgekühlter Reaktor (SNR) bekannt geworden ist. Nur wenige wissen, dass es der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt war, der es aus der Taufe gehoben hat.

Willy Brandt, der Visionär (1913 - 1992); deutscher Bundeskanzler von 1969 bis 1974

Brandts tüchtige Minister

Bei einer Kabinettssitzung im Februar 1972 verwies Brandt auf die knappen Uranressourcen in Deutschland und beauftragte seinen damaligen Forschungsminister Klaus von Dohnany, den Bau eines Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein (überwiegend) aus Bundesmitteln zu finanzieren. Das Kernkraftwerk Kalkar zeichnete sich dadurch aus, dass es das Uran in seinem Reaktorkern etwa 50 mal besser ausnutzte als ein gängiges leichtwassergekühltes Atomkraftwerk.

Dohnany gelang es, die Belgier und Holländer ins Boot zu holen und schon im November des gleichen Jahres standen fast zwei Milliarden DM für den Bau des sog. SNR 300 mit seiner elektrischen Leistung von 300 Megawatt zur Verfügung. Siemens gründete die Tochterfirma Interatom, welche das Kraftwerk erstellen sollte; ein Ableger des Energieunternehmens RWE wurde mit der Bauüberwachung beauftragt und sollte später das Kernkraftwerk (KKW) betreiben. Ähnliche Tochterfirmen entstanden in Belgien und Holland. Die Zustimmung der damals in der Opposition verweilenden Parteien CDU/CSU sowie FDP brauchte man gar nicht erst einzuholen; deren frühere Forschungsminister Strauß (CSU), Balke (CDU), Lenz (FDP) und Stoltenberg (CDU) hatten bereits während ihrer Amtszeit die Planungsarbeiten für den Schnellen Brüter im Kernforschungszentrum Karlsruhe nach Kräften gefördert.

Im Dezember 1972 wurde Horst Ehmke (SPD) Forschungsminister; unter seiner Ägide erteilte die Genehmigungsbehörde die hochwichtige erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung (1.TEG), womit gleichzeitig das Grundkonzept des Reaktors genehmigt war. Wie erwartet wurde diese Planfeststellung von einem Anlieger, dem Bauern Maas beklagt, der allerdings 1973 vom Verwaltungsgericht Düsseldorf in erster Instanz abgewiesen wurde.

Im Mai 1974 wurde Hans Matthöfer (SPD) zum Forschungsminister ernannt. Der knorrige Gewerkschaftler war ein besonders standfester Förderer des SNR 300. In einem Interview aus dem Jahr 1976 brachte er die Idee des Brüters in nur zwei Sätzen auf den Punkt: "Der Schnelle Brüter soll das in den Leichtwasser-Reaktoren erzeugte hochradioaktive Abfallprodukt Plutonium sinnvoll wiederverwerten. Zudem soll er die knappen Vorräte an Uran so wirtschaftlich nutzen, dass dessen Bedarf in einigen Jahrzehnten nahezu gegen Null geht." Als Ende 1974 Bundeskanzler Willy Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurücktreten musste, wurde Matthöfer vom nachfolgenden sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt erneut mit dem Forschungsministerium betraut.

Die Ära Matthöfer war eine turbulente Zeit für das KKW Kalkar, in der viele richtungsweisende Entscheidungen gefällt worden sind. Durch zusätzliche Anforderungen der Genehmigungsbehörden auf den Risikogebieten Erdbeben, Flugzeugabsturz und Kernschmelzen erhöhten sich die Kosten des Kraftwerks beträchtlich. Matthöfer gelang es, seine Parteigenossen zur Finanzierung dieser Mehrkosten zu bewegen. 1977 wollte der neugewählte Präsident der USA, Bill Carter, die Brüterprojekte weltweit - ausser in seinem eigenen Land - stoppen; Matthöfer entgegnete diesem Ansinnen erfolgreich durch die globale Expertenkonferenz INFCE. Schliesslich richtete der Deutsche Bundestag eine sog. Enquête-Kommission zum Schnellen Brüter ein, die das Projekt fortan kritisch begleiten sollte

Im Februar 1978 wurde der ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff (SPD) zum Bundesforschungsminister ernannt. Er konnte erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht die Gültigkeit des Atomgesetzes auch für den Schnellen Brüter feststellte. Ausserdem waren zwischenzeitlich ein weiteres Dutzend wichtiger Teilgenehmigungen für Kalkar ergangen. Die besagte Enquête-Kommission hatte zudem das Projekt SNR 300 akzeptiert und lediglich zwei weitere Studien verlangt.

Im November 1980 folgte (als letzter SPD-Forschungsminister) Andreas von Bülow nach. Unter ihm gab der Deutsche Bundestag seine politische Zustimmung zur (späteren) Inbetriebnahme des Brüterreaktors; ausserdem konnte Bülow die Industrie zu einer signifikanten finanziellen Eigenbeteiligung am Projekt bewegen.

Die Wende

Im Oktober 1982 erfolgte in Bonn ein Regierungswechsel. Im Zuge der sogenannten "Wende" wurde Helmut Kohl (CDU) zum Kanzler der Bundesrepublik ernannt; er bestimmte Heinz Riesenhuber (CDU) zum Forschungsminister. Im Dezember des gleichen Jahres hob der Deutsche Bundestag den politischen Inbetriebnahmevorbehalt gegen den Schnellen Brüter in Kalkar auf. Durch Einschiessen neuer Finanzmittel kam es zu einem kräftigen Anstieg der Baustellentätigkeit. Mittlerweile waren bereits 17 Teilgenehmigungen (TG) für das Kraftwerk erteilt; die 18. TG - für die Beladung des Reaktors mit Brennelementen und seine Inbetriebnahme - war in Bearbeitung. Das Projekt schien auf dem besten Weg zu seiner Vollendung zu sein.


Der Schnelle Brüter SNR 300 am Niederrhein im Bauzustand 1981

Aber weit gefehlt! Im Mai 1985 gewann Johannes Rau, SPD-Genosse, gelernter Buchhändler und Freizeitprediger, mit absoluter Mehrheit die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und wurde Ministerpräsident dieses Landes, das für die Erteilung der weiteren atomrechtlichen Genehmigungen zuständig war. Er schien der richtige Gegenkandidat zu Helmut Kohl bei der 1987 anstehenden Bundestagswahl zu sein, nachdem Hans-Jochen Vogel zwei Jahre zuvor dem Pfälzer unterlegen war.

Rau war voller Ehrgeiz und drängte seine Partei dazu, sich thematisch neu zu positionieren. Im Parteirat der SPD verlangte er eine "Kurskorrektur" bei den Projekten Kalkar und Wackersdorf, die vorher jahrelang von der SPD getragen wurden. Als sein zuständiger Fachminister Reimut Jochimsen darauf hinzuweisen wagte, dass für Kalkar bereits 17 atomrechtliche Einzelgenehmigungen erteilt worden waren und die Betriebsgenehmigung aus rechtlichen Gründen nicht mehr versagt werden könne, wurde er zurückgepfiffen und sogar gerügt, weil er nicht genügend "Dialektiker" sei. Jochimsen solle eben zusätzliche Forderungen stellen und im übrigen auf Zeit spielen. Hans Apel, der frühere Bundesfinanzminister, nahm an dieser Strategiesitzung teil und beschreibt die Kontroverse recht offen in seinen Lebenserinnerungen "Der Abstieg" auf den Seiten 351ff.
Hans Apels Lebenserinnerungen (Knaur - Taschenbuch)

Das Ende

Minister Jochimsen tat, was ihm sein Chef Rau befohlen hatte. Er erfand immer "neue Bedenken", die dann durch umfängliche Gutachten zeitraubend ausgeräumt werden mussten.

"Mäusetennis" bezeichneten die Leute in Kalkar dieses Procedere in sehr anschaulicher Weise. Im April 1988 riss dem damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer die Geduld und er forderte in einer "rechtlichen Bundesanweisung" das Land Nordrhein-Westfalen ultimativ auf, das Genehmigungsverfahren des SNR 300 zu beschleunigen. Kess reichte NRW beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage gegen diese Weisung ein - und verlor in allen Punkten! Der Bund hatte seine Weisungskompetenz rechtmässig in Anspruch genommen.

Aber dieser Sieg in Karlsruhe war nur ein Phyrrussieg. Die Landesbehörde durfte zwar nicht mehr offen die Betriebsgenehmigung für das KKW Kalkar verweigern, aber "prüfen" war ihr erlaubt. So wurde der SNR 300 letztlich zu Tode geprüft. Der Bundesrichter Fritz Ossenbühl nannte das Kind beim Namen, indem er formulierte: "Das Land hat unter dem Schein der Legalität Obstruktion betrieben". Minister Jochimsen behauptete zwar in der Öffentlichkeit "nach Recht und Gesetz" zu handeln, das wurde ihm aber nicht abgenommen. Die Wochenzeitung "Die Zeit" hat diese Verschleppungstaktik zutreffend als "kalkarisieren" bezeichnet und damit ein neues Wort geprägt. Im juristischen Sprachgebrauch bildete sich dafür die Bezeichnung "ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug" heraus. Horst Sendler, der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgericht, definierte ihn zugespitzt als "Nichtvollzug durch Vollzug" und verglich ihn mit "Dienst nach Vorschrift", welcher gelegentlich bei Tarifstreitigkeiten im öffentlichen Dienst geübt wird.


Johannes Rau (1931 - 2006); verkniffener Blick zurück

Als im Jahr 1990 die deutsche Wiedervereinigung in Kraft trat, waren die Bundeskassen leer und für Kalkar war kein Geld mehr vorhanden. Im März 1991 musste der Forschungsminister Heinz Riesenhuber deshalb das internationale Brüterprojekt beenden, indem er alle Verträge auflöste. In seiner öffentlichen Presseerklärung liess er verlauten: "Die Verantwortung für das Ende von Kalkar liegt eindeutig beim Land Nordrhein-Westfalen".

Fazit

Rekapitulieren wir: Bundeskanzler Willy Brandt, SPD, hat den Brüter politisch auf den Weg gebracht. Seine - und Helmut Schmidts - fünf sozialdemokratische Forschungsminister Dohnany, Ehmke, Matthöfer, Hauff und Bülow haben die Finanzierung dieses Grossprojekts über alle Genehmigungshürden hinweg sichergestellt.

Als Helmut Kohl, CDU, im Herbst 1982 ans Ruder kam, forcierte sein Forschungsminister Riesenhuber erfolgreich den Weiterbau des SNR 300 bis zu dessen Vollendung im Jahr 1985. Zu dieser Zeit beschloss Ministerpräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Kohl bei der im Jahr 1987 anstehenden Bundestagswahl herauszufordern. Er fand es opportun, auf der damaligen (grünen) Antiatomwelle zu schwimmen und zwang seinen Fachminister Jochimsen, die Betriebsgenehmigung für Kalkar zu hintertreiben. Sogar einer Bundesanweisung leistete er keine Folge. Damit "hungerte" er das Projekt finanziell aus, sodass es aus Geldgründen 1990 zwangsweise beendet werden musste.

Das einzige Erfreuliche an dieser Malaise ist, dass Johannes Rau 1987 die Bundestagswahl gegen Helmut Kohl krachend verlor -

und nicht als "Kanzler der Wiedervereinigung" in die Geschichtsbücher eingehen durfte.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Stuttgart 21: Ein brüchiger Frieden

Einen Gewinner gibt es bei den Schlichtungsgesprächen um den Stuttgarter Bahnhof S 21 auf alle Fälle: den Nachrichtensender "Phönix", dem die Liveübertragungen aller acht Schlichtungsrunden Zuschauerrekorde bescherten. Während sonst zu nachmittäglichen Stunden seine Einschaltquoten kaum messbar sind, zappten an den Schlichtungstagen Hunderttausende, ja Millionen, auf diesen TV-Kanal, um Heiner Geißlers Moderationskünste in Echtzeit mitverfolgen zu können.

Am 30. November war das Finale angesagt und es dauerte fast bis 5 Uhr abends bis der Schlichter seinen Spruch verkünden konnte: "Der Stuttgarter Tiefbahnhof S 21 darf gebaut werden, ebenso die Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm".

Bedeutende Fernverkehrsstrecken der deutschen Bahn (aus DB, StZ)

Aber unter Auflagen! So soll eine Stiftung darüber wachen, dass die neu gewonnenen Freiflächen zu erschwinglichen Preisen bebaut werden. Im Schlossgarten sollen keine gesunde Bäume mehr geschlagen, sondern allenfalls umgepflanzt werden. Der Bahnhof soll für Alte und Kranke verkehrssicher werden und ist bei Bedarf um zwei weitere Gleise zu erweitern. Per Computersimulation soll nachgewiesen werden, dass der neue Bahnhof tatsächlich 30 Prozent mehr Kapazität besitzt als der alte Kopfbahnhof. ("Stresstest")

Diese Massnahmen kosten natürlich Geld. Erste Schätzungen gehen von 150 Millionen Euro aus. Die Grünen rechnen sogar mit 500 Millionen, womit die bisherige Kostenplanung überschritten wäre und das Projekt aus wirtschaftlichen Gründen womöglich doch noch zu Fall käme. Die projektführende Bahn hält sich mit Statements vornehm zurück und will in aller Ruhe die Zusatzkosten analysieren. (Wahrscheinlich nach der Landtagswahl.)

Die Befürworter von S 21 sind mit einem blauen Auge davon gekommen und zeigten sich insgeheim zufrieden. Die Gegner waren enttäuscht darüber, dass Geißler weder den Baustopp verlängerte, noch eine Volksbefragung in Erwägung zog. Der öffentliche Streit wird also - vielleicht in moderaterer Form - weitergehen und bei der Wahl im März 2011 wird es dann doch noch zu der (demokratisch legitimierten) Volkabstimmung kommen. Gemäss einer Umfrage ist die Stimmung der Bevölkerung bereits gekippt; mehr als die Hälfte der Menschen in Stuttgart und Umgebung sind mit Geißlers Schlichtungsspruch einverstanden und halten S 21 für ein gutes Projekt, das man bald verwirklichen sollte.



Modell des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs (links das alte Bahnhofsgebäude)

Die Politiker sprechen sich dafür aus, das derzeitige Baurecht zu straffen, um zu kürzeren Planungszeiten zu kommen. Die öffentlichen Anhörungen sowie das Recht zur Klage vor den Verwaltungsgerichten soll aber nicht eingeschränkt werden. Eine Schlichtung - Mappus nennt es "Dialogforum" - könnte man sich zu Beginnn der Projektplanung vorstellen. Ob das die kontroversen Diskussionen vermeidet, wird man sehen, wenn demnächst Grossprojekte wie Stromtrassen und Pumpspeicherkraftwerke auf dem Plan stehen. Unbeeindruckt von diesen Überlegungen ist der harte Kern der Grünen:

Sie haben für kommenden Samstag bereits wieder zu einer "Grossdemo" gegen Stuttgart 21 aufgerufen.

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