Sonntag, 28. März 2010

Utz Claassen macht den Oskar

Utz Claassen ist eine Art Paradiesvogel innerhalb der deutschen Managerkaste. Dazu trägt nicht nur sein kernig-putziger Vorname bei, sondern auch der Umstand, dass er für Talkshows aller Art stets bereitwillig zur Verfügung steht. Ein Promi also, den auch die Boulevardmedien kennen und lieben. Vier Jahre lang, von 2003 bis 2007 dirigierte er als Vorstandsvorsitzender das Karlsruher Energieversorgungsunternehmen EnBW und behauptete - weitgehend als Einziger - dieses Unternehmen als "Sanierungsfall" übernommen und durch sein Engagement vor Schlimmeren bewahrt zu haben. Da war es schon verwunderlich, dass er, noch vor Auslaufen seines Fünfjahresvertrags den Bettel hinwarf und die EnBW vorzeitig verliess. Böse Zungen behaupten allerdings, dass er mit diesem Schritt nur seinem eigenen Rauswurf zuvor gekommen sei.

Danach verbrachte Claassen eine geraume Zeit in den USA, wo er für einen Finanzdienstleister mit dem aufschlussreichen Namen "Cerberus" arbeitete. Sein Status bei dieser "Heuschrecke" blieb weitgehend geheim, weswegen es zu mehreren Prozessen mit seinem früheren Arbeitgeber EnBW kam, die bis zum Bundesgerichtshof führten. Zwischendurch liess sich Claassen unter dem Label "UC Utz Claassen" Markenrechte für diverse Produkte eintragen, darunter Uhren, Schmuck, Klebstoff - und Pferdepeitschen.

Ende vergangenen Jahres überraschte Utz die Öffentlichkeit mit der Ankündigung, dass er ab 1. Januar 2010 die Position des Vorstandsvorsitzenden bei der Erlanger Firma Solar Millenium AG (SM-AG) einnehmen werde, bei einem Unternehmen, das sich der Nutzung der Sonnenenergie verschrieben hat. Das tat er denn auch - aber schon nach zweieinhalb Monaten war Schluss. Claassen schickte Mitte März ein Fax an seinen Aufsichtsratsvorsitzenden und teilte ihm den sofortigen Austritt aus der Firma mit. Den Dienstwagen und die Firmenkreditkarte liess er per Kurier nach Erlangen bringen. Wow!

Mit dieser Entscheidung war Claassen ein ähnlicher Coup gelungen wie vor Jahren Oskar Lafontaine, der im März 1999 Knall auf Fall den Posten des Bundesfinanzministers hinschmiss. Und wie bei Oskar rätselt man auch bei Utz über die Gründe, wobei bisher nur bekannt ist, dass Claassen sich auf eine Ausstiegsklausel in seinem Anstellungsvertrag berufen konnte, also zumindest formell das Recht zur Kündigung hatte.


Utz Claassen pfeift auf Solar Millenium

In Wirtschaftskreisen war man von Anfang an verwundert, dass sich Claassen als ehemaliger Konzernlenker mit der Firma Solar Millenium einliess, die man allenfalls als "mittelständisch" bezeichnen kann (um das Wort "Klitsche" zu vermeiden). Nach eigenen Angaben beschäftigte SM-AG im Jahr 2008 lediglich 103 Mitarbeiter und erzielte bei einem Umsatz von 12,3 Millionen Euro den bescheidenen Gewinn von 300.000 Euro. Kein Vergleich mit EnBW, die im gleichen Jahr mit 20.000 Mitarbeitern einen Umsatz von 16.3 Milliarden und einen Gewinn von 2 Milliarden machten.

Das Geschäftsmodell der SM-AG ist die Planung, der Bau und der Betrieb von Solarkraftwerken im südspanischen Andalusien. Die Technologie beruht auf parabelförmig gekrümmten Spiegeln, welche die einfallenden Sonnenstrahlen bündeln und damit ölgefüllte Linearkollektoren erhitzen. Die so gewonnene Wärme wird in einer Dampfturbine zur Stromerzeugung genutzt. Da Solar Millenium die notwendigen Investitionen aus eigener Kraft nicht stemmen kann, offeriert es im Rahmen geschlossener Fonds Aktien und stellt eine Rendite von 8 % (!) in Aussicht. Vom spanischen Staat wird über eine Art Energieeinspeisegesetz die Abnahme des Stroms und seine Subvention erwartet. SM-AG ist also ein sogenanntes "start-up-Unternehmen", bei dem es zum Geschäftsmodell gehört, dass die Projekte weit grösser sind als das Unternehmen selbst. Dementsprechend volatil ist der Aktienkurs; beim Abgang von Claassen fiel er von 44 auf 21. Im nächsten Jahr will Solar Millenium satte 350 Millionen Euro an Publikumsgeldern einsammeln, was nicht leicht sein dürfte.




Aufbau und Betrieb von Solarfeldern in Andalusien

An der Börse wird gemunkelt, dass Claassen erst beim Blick in die Geschäftsbücher die Risiken dieser Firma voll bewusst wurden. Wenn er die Schädigung seines Rufs durch einen schnellen Rücktritt in Kauf nahm, so kann das eigentlich nur bedeuten, dass er darum fürchtete, seinem Ruf noch mehr zu schaden, wenn er bei Solar Millenium geblieben wäre. Hinzu kommt, dass die "Wirtschaftswoche" seit einiger Zeit über "Unregelmässigkeiten bei der Bilanzierung" berichtet und dem Unternehmen "kreative Buchführung" unterstellt. Auch diese Medienberichte führten zu Dellen im Aktienkurs und verschreckten die Anleger.

Nun, Utz braucht das nicht mehr zu kümmern. Bei den oben genannten Prozessen und dem anschliessenden Vergleich mit der EnBW hat er von seinem früheren Arbeitgeber eine Abfindung von 2.5 Millionen Euro herausgeholt.

Damit lässt sich im heimatlichen Hannover eine Zeitlang gut leben.

Sonntag, 21. März 2010

Geschichten um Maier-Leibnitz

Ungeachtet der vielen Kollegen im Physik-Department der Münchener Technischen Hochschule (TH, später TU) blieb Professor Maier-Leibnitz doch zeitlebens die Nr. 1. Das hatte zu tun mit seiner wissenschaftlichen Kompetenz und seiner Ausstrahlung, die gepaart war mit Menschlichkeit und natürlicher Bescheidenheit. Er war durch eine lange und harte Schule gegangen. In Göttingen studierte er bei dem Nobelpreisträger James Franck, in Heidelberg habilitierte er sich im Umkreis der Physikheroen Bothe, Geiger und Gentner. Mit 41 Jahren wurde er 1952 an den Lehrstuhl für technische Physik der TH berufen. Spät, verglichen mit heutigen Karrieren, aber auch bedingt durch die Kriegsumstände. Er hatte umfassende Kenntnisse auf den Gebieten der Atom- und Kernphysik, aber auch alle Apparaturen zur Kernstrahlenmessung konnte er selbst bauen - angefangen vom Proportionalzählrohr, über die Impulsverstärker, Untersetzer, Koinzidenzanlagen u.a.m. Sogar im Glimmerspalten für die Fenster der Zählrohre und Ionisationskammern war er ein Meister.

Heinz Maier-Leibnitz als Habilitand in Heidelberg in den 30er Jahren

Kein Wunder, dass er auch von seinen Schülern, den Diplomanden und Doktoranden, viel verlangte. Insbesondere bei der Diplomarbeit sah er darauf, dass sie zügig zuende gebracht wurde. Einige seiner Sprüche sind mir heute noch in Erinnerung, wie etwa "jeder darf Fehler machen, aber nicht zweimal denselben", oder "wer etwas Neues finden will, ist immer überfordert", oder "niemand hat das Recht, sein Talent zu verschleudern". Von der 40-Stunden-Woche für Forscher hielt er wenig; regelmässig konnte man noch spätabends - und auch an den Wochenenden - Licht in vielen Labors sehen. Aber er hatte auch Verständnis dafür, dass wir mittags Schafkopf spielten oder einen zünftigen Skat klopften.

Selbst gelegentliche (milde) Scherze auf seine Kosten nahm er hin. So hatte mein heutiger Rotter Stammtischbruder Peter F. als damaliger Doktorand eine zeitlang die Unsitte angenommen, sich bei telefonischen Anrufen mit "Maier-Leibnitz" zu melden, wobei er dessen leise flüsternde Stimme perfekt nachzuahmen vermochte. Natürlich kamen die Anrufer regelmässig mächtig ins Stottern und entschuldigten sich ob des Fehlanrufs - was Peter diebisch freute. Schliesslich kam es, wie es kommen musste: wieder einmal klingelte das Telefon, Peter meldete sich mit "Maier-Leibnitz", aber, oh Schreck, die ihm bekannte Stimme sagte trocken: "hier auch", um kommentarlos mit der Frage fortzufahren: "ist der Alefeld da?". Der Doktorand F. war verwirrt und hat von Stund an sein Hobby eingestellt.

Besprechungen über administrative Angelegenheiten waren bei Maier-Leibnitz geprägt durch äusserste Knappheit. Meist ging er zum Büro seines Stellvertreters, steckte den Kopf durch die Tür und sagte: "Herr Riehl, wir müssen in der und der Frage eine Entscheidung treffen. Wollen wir es so oder so machen?" Riehl nickte bei einer der vorgeschlagenen Alternativen mit dem Kopf, oder fügte ein "jawohl" hinzu, falls er gerade in redseliger Stimmung war. Daraufhin ging die Tür wieder zu, die "Besprechung" war zu Ende. Falls es sich um eine Beschaffung handelte, schrieb die hinter ML (sein Spitzname) stehende Sekretärin Paula Moehnle sogleich den Bestellschein aus, der Pedell wurde in die Stadt geschickt und kam kurze Zeit darauf mit dem gekauften Gegenstand zurück.

Für seine Doktoranden empfand Maier-Leibnitz (bei aller wissenschaftlicher Strenge) viel menschliches Verantwortungsgefühl, wenn es um deren späteres Fortkommen ging. Eine kuriose Episode mag das verdeutlichen. Einer von MLs Doktoranden, der eine hervorragende Arbeit vorgelegt hatte, wurde im Rigorosum mündlich examiniert. Die Prüfung fiel katastrophal aus, der Kandidat wusste fast nichts. Die Zensur "cum rite" war gerade noch vertretbar; das Dreierkollegium wusste anfangs nicht was man tun sollte. Da erklärte Maier-Leibnitz, der Prüfling sei ihm als sehr guter Physiker bekannt, eine Benotung entsprechend der mündlichen Leistung würde ein völlig falsches Bild über den Kandidaten abgeben, man solle den Fall als "Sonderfall" ansehen und eine sehr gute Benotung beschliessen. Nach einiger Zeit liessen sich Vorsitzender und Beisitzer dazu überreden, der Prüfling wurde wieder herein geholt und ihm der Kommissionsbeschluss "sehr gut" mitgeteilt. Nun geschah das Schreckliche. Mit vor Entrüstung bebender Stimme weigerte sich der Kandidat, diese Benotung anzunehmen, denn seine Prüfungsleistung sei miserabel gewesen. Es ergab sich die groteske Situation, dass die drei Professoren ihre ganze Überredungskunst aufwenden mussten, um den Prüfling zur Annahme des Beschlusses zu veranlassen - was schliesslich doch noch gelang. Es ist wohl einmalig in der Hochschulgeschichte, dass um eine Benotung mit verkehrten Rollen gestritten wurde.

Immer wieder versuchten Physikerkollegen, die auf Besuch weilten, die "Geheimnisse" von Maier-Leibnitz zu ergründen. Einige vermuteten, dass sich Maier-Leibnitz für sein Institut stets nur die allerbesten Mitarbeiter ausgesucht habe. Er verneinte und erwiderte: "Ein Institut kann nicht nur aus lauter Spitzenwissenschaftlern bestehen. Es muss eine natürliche Schichtung von Intelligenz und anderen Fähigkeiten geben. Erst das erzeugt die Atmosphäre, aus der heraus gute Arbeit entsteht". - Ein anderer Kollege vermutete, dass wohl alle im Institut regelmässig die "Physical Review" lesen würden, um den aktuellen Stand der Forschung überblicken zu können. ML erwiderte darauf, dass dies für ihn nicht gelte; er läse diese Zeitschrift vorallem deswegen, um zu erfahren, was man nicht unbedingt tun solle. (Später gestand er allerdings, dass er die Lambsche Arbeit über die rückstossfreien Prozesse doch besser hätte lesen sollen). - Maier-Leibnitz hat in seinem Leben viele Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. Bei einer solchen Gelegenheit fragte ihn ein gratulierender Kollege, ob er davon nicht schon genug habe und derlei Dekorierungen eventuell als überflüssig ansähe. ML meinte dazu:"Sehen Sie, Sie kennen meine Verdienste, ich kenne sie auch, aber die anderen... dafür ist sowas doch ganz gut!"

Jedes Jahr, zumeist im Februar, war Institutsfasching angesagt. Die Räume wurden dekoriert, die Tanzfläche hergerichtet und alle erschienen in fantasievollen Kostümen - auch der ML mit Familie. Seine Frau Rita, leicht füllig und von mütterlicher Ausstrahlung, war ungemein beliebt im Institut und die drei Teenager-Töchter Christine, Dorothee und Elisabeth wurden natürlich hofiert. Wir Jüngeren machten uns einen Spass daraus, sie - fiktiv - mit passenden Assistenten zu "verheiraten". Tasso S. war dabei unser Lieblingsopfer. Die spätere Realität sah andere Ehepartner für die drei vor; sie kamen nicht aus der Physikersphäre.

Leider starb Rita allzu früh, ein schwerer Schlag für Maier-Leibnitz und seine Familie. Verständlicherweise heiratete er wieder, aber, dass Elisabeth Noelle-Neumann 1979 die Auserwählte war, hat uns alle perplex gemacht. Die Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach und apostrophiert als die "Pythia vom Bodensee" war in vielen das pure Gegenteil seiner verstorbenen Frau. Noelle-Neumann, fünf Jahre jünger als ML, war eine Karrierefrau par excellence, sie suchte das Licht der Öffentlichkeit und insbesondere den Kontakt mit den Mächtigen. Schon im Dritten Reich, als Leiterin eines Nationalsozialistischen Studentenbunds, lernte sie - nach eigenem Bekunden - Adolf Hitler kennen, der sie auf dem Obersalzberg willkommen hiess. Sie schrieb für die NS-Zeitung "Das Reich" und Propagandaminister Josef Goebbels berief sie 1942 sogar zu seiner Adjutantin, wobei nur eine längere Erkrankung sie daran hinderte, dieses Amt anzutreten.

Frau Noelle, in erster Ehe mit dem Journalisten Neumann verheiratet, stellte bald Rhetorikdefizite bei ihrem neuen Ehemann fest. Kein Wunder, denn Maier-Leibnitz war kein Kathederstar wie Gerlach oder Pohl in Göttingen. Sein Vortrag war stockend und durch lange Pausen unterbrochen. Trotzdem erreichte er die Studenten, denn man konnte dadurch an seinen Gedankengängen teilhaben. Aber Frau Noelle veranlasste ihren Ehemann zum Verfassen einer 50-seitigen Abhandlung über Rhetorik, die 1984 in der Schriftenreihe der Bayerischen Akademie erschien. Sie scheint kein Bestseller gewesen zu sein, denn sieben Jahre später beklagte sich Frau Noelle in einem Taschenbuch zu Ehren von ML wie folgt: "Diese Abhandlung erwartet noch immer die Resonanz der wissenschaftlichen Welt". Wie sagen die Angelsachsen: "Those who can, do...".


Elisabeth Noelle-Neumann und Heinz Maier-Leibnitz in den 80er Jahren

Die Diktion der Frau Noelle kam weniger aus dem Herzen - wie bei der verstorbenen Ehefrau Rita - sondern entsprach eher der Wortwahl einer Promi und VIP. Dafür liefert sie selbst den Beweis in einem weiteren Taschenbuch, das nach dem Tod von Maier-Leibnitz erschienen ist. Originalton Noelle: "In der Zeit der grossen Erschöpfung des letzten Lebensjahres - oft klagte er : "Ich kann nicht mehr denken" - tröstete ich ihn wieder und wieder: "Du warst ein Fürst und du bist ein Fürst".

Im letzten Lebensjahr von Maier-Leibnitz kam der Präsident der TU München auf die Idee, seinem verdienten Professor den "Ehrenring" (eine Art Siegelring) als höchste Auszeichnung der Universität zu verleihen. Volle 17 Jahre waren verstrichen seit der Emeritierung von ML (1983); man hätte diese Dekoration, bei Gott, früher vornehmen können. (Zwischenzeitlich hatte ML den Verdienstorden Pour le Mérite, das Grosse Bundesverdienstkreuz, ein Dutzend weiterer Medaillen und mehrere Ehrendoktorate erhalten). Aber im Sommer 2000 beschloss das Präsidium der TU, dass Maier-Leibnitz beim dies academicus, am 7. Dezember, auch ihren hochwertvollen Ring erhalten solle. Indes, es war zu spät, der Schwerkranke konnte die Reise (von Allensbach) nach München nicht mehr antreten. So schickte man Paul Kienle, einen Schüler von Maier-Leibnitz (mit der Amtskette des Präsidenten!) ans Krankenbett. Die "Zeremonie" wurde fotografisch festgehalten. Die Reaktion des Totkranken auf die Dekoration beschreibt Frau Noelle so: "Als ihm der Ehrenring angesteckt war, war es, als ob eine Erlösung über sein Gesicht ging".


Paul Kienle überreicht Maier-Leibnitz den Ehrenring der Technischen Universität München

Einen Tag später, am 16. Dezember 2000, ist Professor Heinz Maier-Leibnitz gestorben.

Sonntag, 7. März 2010

Der zweite Mößbauer-Effekt

Als Rudolf Mößbauer seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte - für die er drei Jahre später den Nobelpreis der Physik erhalten sollte - fuhr er im Herbst 1958 erwartungsvoll nach Essen zur Deutschen Physikertagung. Er wollte den von ihm gefundenen "rückstossfreien Kernresonanzeffekt" seinen Fachkollegen vorstellen und erhoffte sich insgeheim eine lebhafte Diskussion darüber. Aber er wurde enttäuscht. Man hatte seine Präsentation an das Ende einer Nachmittagssitzung gelegt, die Stuhlreihen waren bereits beträchtlich gelichtet und sein Vortrag fand keinen Widerhall. Es gab kaum Fragen, schon gar nicht die von ihm erwartete Diskussion unter Physikerkollegen.


Rudolf Mößbauer als 31-jähriger

Ganz anders war es ein Jahr später bei einem Kolloqium an der Universität Heidelberg. Hier war es vorallem der auf Besuch weilende US-Amerikaner (und gebürtige Schweizer) Felix Böhm, der intensiv nachfragte und sich für alle Details seines Effekts interessierte. Und nicht nur das. Noch am gleichen Abend telegrafierte Böhm einen Bericht an seine Kollegen der Universität "California Institute of Technology" in Pasadena, kurz Caltech genannt. Dort vertiefte sich sein berühmter Physikerkollege (und späterer Nobelpreisträger) Richard Feynman in Mößbauers Arbeit, erkannte ihren revolutionären Gehalt und kabelte tags darauf an Böhm nach Heidelberg zurück: "Get this guy! Feynman". Kurze Zeit danach übersiedelte Mößbauer nach Pasadena, erhielt dort ein hervorragend ausgestattetes Labor und bald sogar den Titel eines Professors dieser kalifornischen Universität. Die Technische Hochschule München verlor einen ihrer vielen Assistenten, was (ausser Maier-Leibnitz) niemand sonderlich berührte.

Das änderte sich, als Rudolf Mößbauer im Herbst 1961 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Der 32-jährige Deutsche mit dem sympathisch-frischen Aussehen elektrisierte die Nation. Obwohl der Inhalt seiner Forschungen dem grossen Publikum kaum verständlich gemacht werden konnte, waren die Deutschen stolz auf "ihren Mößbauer". Für die Studenten wurde er sogar zu einer Art Popstar. In einer SPIEGEL-Umfrage, bei der die Hochschüler nach ihren Vorbildern befragt wurden, rangierte Mößbauer im Spitzenfeld, nach Carl Friedrich von Weizsäcker und Konrad Adenauer. Weit abgeschlagen waren Willy Brandt, Uwe Seeler und Hans-Joachim Kulenkampff.

Kein Wunder, dass man den verlorenen Sohn aus Amerika nach Deutschland zurückholen wollte. Reihum boten renommierte Universitäten und Forschungseinrichtungen dem Auswanderer ihre Physiklehrstühle an. So die Uni Mainz, wo man mit dem Otto-Hahn-Ordinariat lockte und sogar das Kernforschungszentrum Karlsruhe warf den Hut in den Ring. Aber Mößbauer lehnte kühl ab. Er kannte die hiesigen schlechten Laborbedingungen aus eigener Erfahrung und die traditionelle Geheimratswissenschaft der deutschen Professoren hatte er auch erlebt.

Typisches Diplomandenlabor an der TH München in den 50er Jahren (mein Arbeitsplatz war vorne links)

Schliesslich war es Doktorvater Heinz Maier-Leibnitz, der seinen Schüler Mößbauer zur Rückkehr an die TH München überreden konnte. Aber dieser stellte Bedingungen und die waren happig. Erstens: in der Physikfakultät ist die Trennung in experimentelle, technische und theoretische Physik aufzuheben; stattdessen soll ein Department für Physik eingerichtet werden. Zweitens: alle Professoren dieses Departments sind gleichberechtigt; sie wählen aus ihrem Kreis für die anfallenden Tagesgeschäfte einen Drei-Mann-Vorstand, der im Turnus wechselt. Drittens: die Last des Anfängerkollegs, bisher allein vom Chef der experimentellen Physik gehalten, wird demokratisch verteilt; jedes Jahr weiht ein anderer Department-Professor die Anfangssemester in die Grundlagen der Physik ein. Viertens: Hilfseinrichtungen, wie Werkstätten, Bilbliotheken, Materialausgabe, aber auch der Kernreaktor FRM stehen allen zur Verfügung und werden zentral verwaltet. Fünftens: gewissermassen um "Butter bei die Fische zu geben" verlangte Mößbauer kühn die Einrichtung von 16 (statt bisher 7) Professorenstellen sowie 234 Planstellen für Assistenten und Hilfskräfte. Sechstens: Mößbauer erklärte sich bereit einen Lehrstuhl in Experimentalphysik zu übernehmen; er bedingte sich jedoch aus, jedes Jahr drei Monate in den USA arbeiten zu dürfen, um den Kontakt mit der amerikanischen Wissenschaft nicht zu verlieren.

Die bayerische Ministerialbürokratie war platt ob der Chupze dieses jungen Professors. In den zuständigen Kultus- und Finanzministerien rechnete man schnell aus, dass diese Neuorganisation dem Freistaat jährlich 2,5 Millionen Mark zusätzlich kosten würde. Viel Geld, verglichen mit den 96.000 Mark, die das Stockholmer Nobelkomittee - einmalig - an Mössbauer für die Entdeckung seines kernphysikalischen Effekts auszahlte. Aber der Reformer liess nicht locker. Schliesslich knickten die Landespolitiker (auch unter dem Druck der Studenten und der Medien) ein und das Physik-Department wurde eingerichtet. Das Wort vom "zweiten Mößbauer-Effekt" machte schnell die Runde; Mößbauer hatte ihn nicht entdeckt, sondern mit fast brachialer Gewalt erzwungen.

Im Vorlesungsverzeichnis 1965/66 der TH München sind erstmals die gleichberechtigt agierenden Professoren des Physik-Departments verzeichnet: Brenig, Dransfeld, Kaiser, Kienle, Lüscher, Maier-Leibnitz, Mang, Mößbauer, Riehl und Wild. Später kamen mit Moringa, Kalvius, Alefeld, Gläser, Schmidt etc. noch weitere hinzu. Der geschäftsführende Vorstand setzte sich aus Wild (Vorsitz), Lüscher und Maier-Leibnitz zusammen. Für die Infrastruktur waren Geuge und Koester (Reaktor) benannt.

Das Departmentsystem besteht heute noch an der TH (mittlerweile in Technische Universität=TUM umbenannt) und kann rückblickend als Erfolg gewertet werden. Aber den Chefs unterliefen natürlich auch Fehler. Ein ganz schlimmer 1984, als man den wenig beachteten Extraordinarius Klaus von Klitzing, damals 41 Jahre alt, zum Max-Planck-Institut für Festkörperforschung nach Stuttgart ziehen liess und dieser im Jahr darauf den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung des Quanten-Hall-Effekts erhielt, den er ausschliesslich in München ausgeknobelt hatte. Schnell bot man dem Flüchtling ein auf ihn zugeschnittenes 20 Millionen teures Halbleiter-Elektronik-Institut für seine Rückkehr an, aber Klitzing blieb in Stuttgart. Ein Hauch von Mößbauer lag in der Luft - nur, dass der Rückholtrick wie vor einem Vierteljahrhundert, nicht mehr funktionierte.

Für viele Kollegen überraschend, wandte sich Mößbauer Anfang der 70er Jahre von der weiteren Erforschung des von ihm entdeckten Effekts ab. Man kann sagen, dass er von seinem eigenen Erfolg überwältigt worden war. Denn zu jener Zeit wurde fast jedes Jahr eine grosse internationale Mößbauer-Konferenz veranstaltet, wo seine Präsenz erwartet wurde. Gleichzeitig erschienen pro Jahr etwa tausend wissenschaftliche Arbeiten zur Mößbauer-Spektroskopie. Ein Grossteil dieser Autoren schickte ihm ihre Veröffentlichungen mit Widmung zu, die er (zumindest flüchtig) lesen und mit einigen freundlichen Sätzen beantworten sollte. Und das zu den Zeiten, da sowohl der PC als auch das Word-Programm noch unbekannt waren. Kurzum, Mößbauer wurde das zuviel und er sattelte - thematisch - um.

Er begann sich für die Physik des Neutrinos zu interessieren. Im damaligen Standardmodell der theoretischen Physik war angenommen worden, dass dieses Teilchen, ähnlich wie das Licht, keine Masse besitze. Mößbauer bezweifelte dies und führte Experimente (wie GALLEX) durch, welche die sogenannten Neutrino-Oszillationen vermuten liessen. Tatsächlich stellte sich nach aufwendigen Versuchen, insbesondere in Japan, heraus, dass die Neutrinos durchaus Masse besitzen und - wegen ihrer Vielzahl - sogar signifikant zur Gesamtmasse des Universums beitragen.

Aber Mößbauer war nicht nur Forscher, sondern auch ein begnadeter Lehrer. Die Studenten der TUM waren begeistert von seinen brillanten Vorlesungen, die nicht zuletzt auf perfekter didaktischer Vorbereitung beruhten. Trotz zahlreicher Angebote anderer Universitäten und Forschungsorganisationen im In-und Ausland ist er seiner Heimatuniversität, der TU München, lebenslang treu geblieben.

Seit 1997 ist Professor Rudolf Mößbauer emeritiert.

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