Sonntag, 27. September 2009

Aller Anfang ist schwer

Wer erinnert sich nicht an die Zeit im Pennal, wenn bei der Klassenarbeit "Deutscher Aufsatz" der allererste Satz einfach nicht aus der Feder fliessen wollte. Umgekehrt: hatte man einen guten Einstieg ins Thema gefunden, dann waren sogar die folgenden 10 oder 20 Seiten keine Qual mehr.

Anfangen heisst auswählen. Das fällt auch gestandenen Schriftstellern und sogar Dichtern nicht immer leicht. Im Idealfall ist der Anfang der Roman "in nuce", in der Nussschale. Und der erste Satz ist der Türöffner. Bei dem riesigen Literaturangebot in den Buchhandlungen entscheidet er nicht selten darüber, ob ein Buch gekauft wird oder ob man sich von ihm abwendet. Der amerikanische Schriftsteller William Faulkner hat folgende Regel für den ersten Satz aufgestellt: "Schreibe den ersten Satz so, dass die Leser unbedingt den zweiten lesen möchten - und dann immer so weiter." Einfach, nicht wahr?

Zwei Extrembeispiele sollen das verdeutlichen. In Frank Schulz´ Buch "Kolks blonde Bräute" ist der erste Satz reduziert auf ein einziges Wort: Strapse! Und James Joyce beginnt in "Finnegans Wehg" (deutsche Fassung) wie folgt: Flussaufs, vorbei an Adam und Eva, von KüstenKurven zur BuchtBiegung, führt uns durch einen kommodien Uoikuss der Rezierkuhlation zurück nach Haus Castell und Emccebung. Bei diesen beiden Werken gibt es vermutlich keine Überlappung der Käufergruppen.

Berühmte Anfänge gab es bereits bei den Werken der Antike. Wie Julius Caesar seine Erinnerungen "De bello Gallico" begann, wusste (früher) jeder Gymnasiast: Gallia divisa est in partes tres. (Die Übersetzung: Gallien zerfällt in drei Teile wirkt demgegenüber fast banal.) Und Homer eröffnet die Gesänge der "Ilias" mit: Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, / ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte. (Leider beschränkt sich meine humanistische Bildung lediglich auf Latein.)

Die Klassiker Goethe und Schiller glänzen in ihren Dramen und Prosawerken natürlich auch mit Passagen, die heute noch viele zitieren können. Allen voran Goethe mit seinem Eingangsmonolog beim "Faust": Habe nun ach! Philosophie,/ Juristerei und Medizin / und leider auch Theologie / durchaus studiert, mit heissem Bemühn... (Verglichen damit wirkt der Eingangstext beim "Hamlet" relativ belanglos; der berühmte Monolog Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage befindet sich in der Mitte des Dramas.) Schiller möchte ich zitieren mit seinem "Don Carlos", wo am Anfang der Beichtvater Domingo den wundervollen Satz spricht: Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende, mein Prinz. Und nochmals Goethe, er kann es auch ganz nüchtern, denn "Dichtung und Wahrheit" beginnt mit: Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlag zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.

Viel Information packte E.T.A. Hoffmann in den Romananfang bei "Das Fräulein von Scuderi": In der Strasse von St. Honore war das kleine Haus gelegen, welche Madeleine de Scuderi, bekannt durch ihre anmutigen Verse, durch die Gunst Ludwig des XIV und der Maintenon, bewohnte.

In der Neuzeit angelangt sind wir mit Franz Kafka, dessen Roman "Der Process" wie folgt beginnt: Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Und noch verdichteter ist der Anfang beim "Schloss": Es war spät in der Nacht, als K. ankam.

Günter Grass leitet seinen Roman "Die Blechtrommel" mit einer (versteckten) Negation ein, konfrontiert den Leser mit einem verwunderlichen Sachverhalt und macht ihn dadurch neugierig: Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil-und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann; mein Pfleger kann gar nicht mein Feind sein. Im "Butt" macht er es dann kürzer mit dem klassischen Satz: Ilsebill salzte nach.

Superb ist der Anfang bei Max Frisch´Roman "Stiller". Er beginnt mit: Ich bin nicht Stiller! Die Thematik der folgenden 400 Romanseiten sind kondensiert auf die 4 Worte des Anfangs.

Der Komponist Richard Wagner hat seine Libretti bekanntlich selbst geschrieben. Sie sind von so hoher sprachlicher Qualität, dass man ihn durchaus als Schriftsteller bezeichnen könnte. In der "Walküre", einer Oper aus den Ringzyklus, stürzt Siegmund nach den Vorspiel erschöpft in Hundings Hütte und singt den ersten Satz: Wess´Herd dies auch sei / hier muss ich rasten. Und im "Rheingold" goutiert man sogar den (alliterativen) Gesang der hübsch anzusehenden Rheintöchter, weil er mit der Musik und dem szenischen Geplantsche konform geht: Weia! Waga / Woge, du Welle, / walle zur Wiege! / Wagala weia! / Wallala weiala weia.

Abschliessend noch ein Beispiel für einen Schlussgag, den sich der ansonsten weniger bekannte Schriftsteller Thomas Kapielskis in seinem Roman "Aqua Botolus" geleistet hat:

Beim nächsten Mal habe ich die Dinger aber doch gekauft, und dann ist folgendes passiert.

Sonntag, 20. September 2009

Eisige Zeiten

Seit Jahrzehnten deutet sich auf unserer Erde eine Klimaveränderung an. Die jährlichen Durchschnittstemperaturen steigen, die Winter werden immer wärmer und in den Schiorten fehlt es an Schnee. Nicht wenige Menschen fürchten den "Wärmetod". Der Rückgang der Gletscher und die Erhöhung des Meeresspiegels sind gruselige Vorzeichen.


Aber es könnte auch ganz anders kommen. Erdgeschichtlich betrachtet, sind wir am Ende einer Warmzeit, die nun schon 10.000 Jahre anhält, aber bereits morgen in eine Kaltzeit - sprich Eiszeit - abkippen könnte. Die Temperaturen würden in wenigen Jahren um 5, vielleicht sogar um 10°C absinken und über Deutschland sowie weite Teile Europas würde sich ein kilometerhoher Eispanzer legen. Was das für eine Panik in unserer dicht bevölkerten Region auslösen würde, kann man sich kaum vorstellen.

Denn Eiszeiten sind, erdgeschichtlich betrachtet, nichts Aussergewöhnliches, sondern geradezu die Regel. Seit unser Vorfahre, der homo erectus, vor 2,5 Millionen Jahre anfing, die afrikanische Savanne zu durchstreifen, hat Europa Dutzende von Eiszeiten erlebt. Sie dauerten etwa 50.000 bis 100.000 Jahre und waren durch Zwischeneiszeiten (bzw. Warmzeiten) unterbrochen, die wesentlich kürzer waren und sich über nur 5.000 bis 10.000 Jahre erstreckten. Möglicherweise ist alles, was man zur menschlichen Kultur und Zivilisation rechnen kann - die Entwicklung der Landwirtschaft, die Entstehung der Städte und der Aufstieg von Wissenschaft und Technik - in den wenigen, sehr untypischen, Schönwetterperioden enstanden.

Einige Super-Eiszeiten gab es noch weit früher, vermutlich vor 2 Milliarden Jahren. Die Temperaturen sanken damals um 45°C und wahrscheinlich war die gesamte Erdoberfläche eingefroren. Selbst die Ozeane waren mit einer 700 Meter dicken Eisschicht bedeckt, welche auch in den Tropen noch einige Meter mächtig war. Die Geologen bezeichnen diese Phase als "Cryogenium" bzw., sehr anschaulich, als "Schneeball Erde". Erstaunlich ist, dass sich die Erde von ihrem Eispanzer wieder befreien konnte. Ein vereister Planet sollte eigentlich soviel Wärme reflektieren, dass er für alle Zeiten eisig bleibt. Aber vermutlich kam die Rettung aus dem Erdinnern und den Vulkanen, welche den Schneeball Erde wieder auftauten.


Lassen Sie mich hier eine Parenthese einfügen. Der Salzstock in Gorleben, welcher für die Endlagerung der Nuklearabfälle vorgesehen ist, wird im Wahlkampfgetümmel wieder heftig kritisiert und in seiner Tauglichkeit bestritten. Ich glaube, dass Zweifel daran unangebracht sind und zwar aus folgenden Gründen: dieser Salzstock (wie auch andere in der norddeutschen Tiefebene) ist vor mehr als 200 Millionen Jahre durch die Verdunstung eines Meeres entstanden. Seitdem sind viele Eiszeiten und Warmzeiten über ihn hinweg gegangen. In den Eiszeiten schob sich, wie ein gigantischer Hobel, jedes Mal ein schwerer Eispanzer über ihn hinweg. Zu den Warmzeiten lag er lange Zeit unter einem grossen See. Keines dieser gewaltigen Naturphänomene hat seine Existenz beeinträchtigt. Warum sollte er nicht noch einige weitere tausend oder hunderttausend Jahre Bestand haben, während der die Abfälle abklingen würden?


Erstaunlich und bedrohlich gleichermassen ist die Tatsache, dass es keine plausible Erklärung für die Auslösung der Eiszeiten gibt. Vorhersagen sind bis heute unmöglich, obwohl man sich seit fast zwei Jahrhunderten darum bemüht. Lange Zeit glaubte man an astronomische Ursachen. Während die Erde durch den Weltraum wandert, führt sie eine Reihe von Kipp- und Wackelbewgungen aus, welche die Astronomen als Präzession und Exzentrizität bezeichnen. Dadurch kommt es zu unterschiedlicher Sonnenbestrahlung und damit zu unterschiedlichen Temperaturen auf der Erdoberfläche. Aber diese sog. Milenkovic-Zyklen - benannt nach einem serbischen Wissenschaftler, der sie in mühevoller Weise über Jahrzehnte hinweg mit Bleistift und Rechenschieber ausgerechnet hat - reichen zur Erklärung nicht aus.

Wahrscheinlich kommen noch irdische Ursachen hinzu, die mit der Plattentektonik, also der von Paul Wegener gefundenen Kontinentalverschiebung, zusammenhängt. So öffneten sich beim Wegdriften von Australien breite Meeresstrassen für Strömungen, während bei der Entstehung der Landbrücke von Panama das globale Strömungssystem blockiert und total umgelenkt wurde. In ähnlicher Weise beeinflusste das Auftürmen des Himalayagebirges oder der Alpen die Windströmungen. Hinzu kamen noch die Vulkanausbrüche, bei denen jeweils eine grosse Menge des Klimagases Kohlendioxid freigesetzt wurde.

Aber diese Vermutungen erklären nicht die erstaunlichen Befunde der Eisbohrkerne aus Grönland. Diese zeigen, dass sich dort die Temperatur in nur 10 Jahren um bis zu 8°C ändern konnte. Offensichtlich muss es, regelungstechnisch gesprochen, gigantische Rückkopplungsschleifen geben, welche so grosse Veränderungen in so kurzer Zeit bewerkstelligen können, dass uns angst und bange werden muss.

Stellen wir uns vor, wie es in der jüngeren Erdgeschichte bereits mehrfach der Fall war, dass sich ein drei Kilometer hoher Eisgletscher aus Skandinavien nach Deutschland zuwälzt. An seiner Vorderkante ist diese Eismauer immer noch 800 Meter hoch. Und sie bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von einem halben Meter pro Tag nach Süden - die Menschen von Hamburg bis München vor sich hertreibend...

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird. Es kann ein Zeitalter tötlicher Kälte, aber auch glühender Hitze sein. Nur eines ist sicher:

Wir leben auf des Messers Schneide!

Sonntag, 13. September 2009

Diese (riskanten) Grossprojekte

Man hört nichts Gutes von den internationalen Grossprojekten ITER und LHC/CERN, die von Deutschland mit mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr mitfinanziert werden. Bei beiden verschieben sich fortwährend die Terminpläne, während gleichzeitig die Kosten drastisch ansteigen.

Bei ITER wollte man noch anfang 2008 das Projekt im Jahr 2016 - also innerhalb von 8 Jahren - mit dem Zünden des Fusionsfeuers vollenden. Mitte 2008 wurde bereits eine 2-jährige Terminverschiebung auf 2018 bekannt gegeben. Nun hat der ITER-Rat auf einer Sitzung im japanischen Mito den Endpunkt nochmals nach hinten geschoben. Zwar hält man am Jahr 2018 fest, aber - schlitzohrigerweise - sollen zu diesem Zeitpunkt nur die Experimente mit Wasserstoff am Reaktor beginnen. Die wichtigen Komponenten für den Betrieb mit Deuterium und Tritium (Blanket, Divertor etc.) sollen erst später eingebaut und getestet werden. Bis dann endlich das Fusionsfeuer zünden wird, das kann dauern. Die "Roadmap" des früheren ITER-Chefs Alexander Bradshaw, wonach die beiden anschliessenden Grosskraftwerke "Demo" und "Proto" noch im Jahr 2048 den kommerziellen Betrieb aufnehmen sollen ("Fast Track") kann man bei dieser Sachlage wohl vergessen. Ebenfalls vergessen scheint der Bau der für die Materialforschung so wichtigen 14 MeV Neutronenquelle zu sein.

Auch bei den Kosten bahnt sich ein Desaster an. Experten gehen davon aus, dass sich die Baukosten des ITER von 5 auf 10 Milliarden Euro glatt verdoppeln werden. Damit würde der europäische Beitrag von 2,78 auf 5,5 Milliarden ansteigen. Verantwortlich dafür sind höhere Rohstoffpreise, Planungsänderungen, Erdbebenvorkehrungen u.a.m. Abstriche am jetzigen Design sind nicht mehr möglich; der ITER ähnelt ohnehin bereits mehr einer physikalischen Experimentieranlage als einem Fusionskraftwerk.

Die internen Reibungsverluste der Viel-Partner-Kooperation scheinen beträchtlich zu sein. China, Indien und Korea haben sich erst vor wenigen Jahren ins ITER-Projekt "gequetscht". Wie bei den Asiaten so üblich, konnten sie schon in kurzer Zeit "grosse Erfahrungen sammeln". Die Koreaner hat dies befähigt, den Auftrag zum Bau einer Anlage an Land zu ziehen, die neun wichtige ITER-Komponenten im Gewicht von 1.200 Tonnen bewegen und präzise platzieren kann. Unbemerkt von der Öffentlichkeit ist in Asien ein neues Zentrum für Fusionsforschung entstanden. Im Juni 2008 hat der koreanische Fusionsreaktor KSTAR sein erstes Plasma erzeugt und damit offiziell den Betrieb aufgenommen. Im China ging 2006 der Fusionsreaktor EAST in Betrieb und in Indien entsteht zur Zeit der Tokamak SST-1 mit Heliumkühlung. Japan betrieb bereits seit längeren den Tokamak JT-60 und will ihn demnächst mit supraleitenden Spulen ausrüsten.

Es wäre interessant festzustellen, wie sich die Bilanz des Wissenstransfer zwischen den vielen ITER-Partnern darstellt! Die Europäer, welche zusammen mit den Amerikanern die kostspielige Fusionsforschung initiiert haben und bereits länger als ein halbes Jahrhundert betreiben, scheinen ihren Vorsprung eingebüsst zu haben.

Ein weiteres Grossprojekt ist ebenfalls in Nöten. Es handelt sich um den Teilchenbeschleuniger LHC beim CERN in Genf, bei dem es nicht rund läuft - im wirklichen wie übertragenem Sinne. Der Large Hadron Collider war gerade (nach 10 Jahre Planung und 13 Jahre Bau) in Betrieb genommen, als es am Freitag, den 19. September 2008, also vor fast exakt einem Jahr, wegen einer fehlerhaften elektrischen Verbindung zwischen zwei supraleitenden Magneten zu einem folgenreichen Störfall kam. Durch verdampfendes Helium, das aus einem Leck entweichen konnte, wurden Dutzende tonnenschwerer Strahlmagnete verschmort und aus ihren Verankerungen gerissen.

Mit der Reparatur der Anlage wollte man zuerst im Frühjahr, dann im Sommer 2009 fertig sein. Jetzt vermeldet die Geschäftsleitung, dass mit einer Wiederinbetriebnahme des LHC - bei der nominellen Strahlleistung von 7 TeV - nicht vor dem Jahr 2011 zu rechnen ist! Wie das? Nun, bei der Überprüfung der rund 10.000 gleichartigen Verbindungen im 27 Kilometer langen Beschleunigertunnel fand man leider eine Anzahl weiterer schadhafter Komponenten, die ebenfalls repariert werden müssen. Sorgen bereiten offensichtlich 80 Kupferverbindungen, die im Falle eines "quench", wenn der Supraleiter in den normalleitenden Zustand übergeht, einen zu hohen Widerstandswert aufweisen und dabei sicherlich schmelzen würden. Deshalb müssen, wohl oder übel, weitere Sektoren der "Protonenrennbahn" geöffnet werden, wobei die Aufwärm- und Abkühlphasen jeweils mehrere Wochen in Anspruch nehmen.

Inzwischen machen die Physikprofessoren, welche den Beschleuniger für ihre Experimente nutzen wollen, Druck auf die Betriebsleute, da ihnen die Doktoranden und post-Docs weglaufen. Deshalb hat sich das CERN-Management entschlossen, den LHC eine Zeitlang mit einer geringeren Leistung (3,5 TeV) zu betreiben, damit die sog. Kollaborationen (d.h. Experimentatoren) ihre Detektoren eichen sowie erste Daten sammeln können. In der Winterpause 2011/12 sollen dann die letzten fehlerhaften Verbindungen repariert und zusätzliche Sicherheitsventile zur Beherrschung des Heliumdrucks eingebracht werden.

Mittlerweile nutzt die konkurrierende amerikanische Physikergruppe des Fermilab bei Chicago ihren Beschleuniger in Tag- und Nachtschicht. Das Tevatron ist zwar etwas leistungsschwächer als der LHC, aber es funktioniert eben. Insbesondere auf die Entdeckung des sog. Higgs-Boson hat man es dort abgesehen. Je massereicher dieses Elementarteilchen ist, umso grösser sind die Chancen der Amerikaner, dass sie es als Erste aufstöbern könnten, auch wenn die Strahlenergie ihrer Maschine niedriger liegt. Ganze Berge von Daten hat man dort inzwischen angesammelt; vielleicht befindet sich das vom schottischen Physiker Higgs vorher gesagte Teilchen bereits darunter. In Genf spürt man förmlich den "heissen Atem" der Konkurrenten im Nacken und hofft, mit Hilfe des geschilderten temporären Betriebs bei Minderleistung doch noch dieses transatlantische Wettrennen zu gewinnen. Dem Sieger würde - soviel ist gewiss - nichts weniger als der Nobelpreis winken.

Resümierend bleibt die starke Vermutung, dass mit LHC und ITER zwei Grossprojekte an ihre technologischen Grenzen gestossen sind. Es wird keinen weiteren Kreisbeschleuniger mehr geben, der den Umfang des LHC übertrifft. Und bei ITER ist es die schiere Zahl ungelöster technischer "ko-Punkte" (Plasma, Material, Kryotechnik, Handhabung, Strahlenschutz etc. etc.), welche nicht an ein kommerzielles Nachfolgeprojekt glauben lassen.

Ausserdem zeichnet sich ab, dass die Investoren abspringen. Bei CERN hat im April d. J. der österreichische Wissenschaftsminister Johannes Hahn die wissenschaftliche Community mit der Ankündigung erschreckt, dass er die Mitgliedschaft seines Landes im CERN-Verbund beendigen wolle. Noch hält sein Bundeskanzler dagegen, aber wielange noch? Bei ITER ist weit und breit kein Investor aus dem Strombereich für die Fusionskraftwerke Demo und Proto zu sehen. Aus Staatsmitteln allein wird man diese Grossprojekte aber nicht stemmen können.

Mit einer geschickten PR-Politik haben die Fusions- und Kernforscher die Regierungen (und die Steuerzahler) viele Jahrzehnte bei Laune gehalten. In Genf jubelte man das Higgs-Boson zum "Gottes-Teilchen" hoch; bei ITER wollte man "das Sonnenfeuer auf die Erde holen". Die Bedeutung des Higgs-Teilchen im Rahmen der Standardtheorie ist aber gemindert, seit mit der Stringtheorie ganz neue physikalische Einsichten und Problemstellungen am Horizont sichtbar werden. Und was das Sonnenfeuer anlangt:

Mit Sonnenlicht und Sonnenwärme kann man eine ganze Menge Energie (einfacher) erzeugen!

Sonntag, 6. September 2009

Mit Recht. Karlsruhe?

Wer weiss wohl auf Anhieb, was die beiden Städte Karlsruhe und Pécs miteinander verbindet? Nun, beide haben sich um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2010" beworben - Karlsruhe, wie bekannt, ohne Erfolg; Pécs, wie weniger bekannt, durchaus erfolgreich.

Pécs gilt als eine der schönsten Städte Ungarns und ist, von der Einwohnerzahl her gesehen, etwa halb so gross wie Karlsruhe. Sie liegt im Süden des Landes, an der Grenze zu Kroatien und ist für ihre mediterrane Atmosphäre geschätzt. Als Bischofssitz darf sich Pécs einer Reihe schöner Kirchen rühmen, weswegen die Stadt früher, zur Zeit der Habsburger, den deutschen Namen "Fünfkirchen" führte. Daneben besitzt sie eine bedeutende Universität, an der das Fach Medizin - Studenten aufgepasst! - sogar in Deutsch gelehrt wird. Pécs wird sich also nächstes Jahr als Europäische Kulturhauptstadt darstellen, zusammen mit Essen samt Ruhrgebiet und der Metropole Istanbul als Vertreterin eines Nicht-EU-Landes.

Weshalb Karlsruhe bei diesem Wettbewerb ausgeschieden ist, blieb weitgehend im Dunkeln. Die Stadtoberen hatten nach einem Alleinstellungsmerkmal gesucht und waren dabei auf den Begriff "Recht" gestossen. Die ansässigen Hohen Gerichte sowie ein Privilegienbrief des Stadtgründers sollten diese Marketingidee unterstützen. Der Kulturbürgermeister Ullrich Eidenmüller erfand noch die durchaus originelle Internetbezeichnung "Mit Recht.Karlsruhe" und es entwickelte sich über Monate hinweg eine lebhafte Kampgne. Leider mit negativem Erfolg, was Eidenmüller in seiner Abschiedsbroschüre mutmassen liess, dass der Begriff Recht im kulturellen Umfeld eben doch als zu sperrig wahrgenommen wurde.

Nun soll also die Stadt Essen, zusammen mit dem Ruhrgebiet, deutsche Kultur im europäischen Verbund präsentieren. Aber was man von dort hört stimmt nachdenklich. In wenigen Monaten soll das Unternehmen mit vielen Veranstaltungen anlaufen, doch wie man in der Kunstzeitschrift "art" lesen kann, "fehlt es an Geld, Engagement und Begeisterung". Den Organisatoren fehlen immer noch vier Millionen Euro in dem ohnehin knapp kalkulierten Etat von 65 Millionen. Zum Vergleich: Istanbul stehen 140 bis 189 Millionen zur Verfügung.

Als Konsequenz wurden im Ruhrgebiet bereits die ersten Projekte abgesagt. Die grosse Eröffnungsfeier in der Arena auf Schalke findet nicht statt - was vielleicht kein Schaden ist. Auch die Ausstellung "Welt der Religionen" im alten Gasometer von Oberhausen fiel dem Rotstift zum Opfer. Unsicher ist, ob die Schau "Zweite Stadt/Ewigkeiten" realisiert werden kann. Dabei sollte in einem Bergbauschacht Lichtkunst präsentiert werden. Finanziell auch noch nicht gesichert ist das Vorhaben "Schacht-Zeichen", bei dem bis zu 400 ehemalige Bergschächte im Revier durch riesige, in rund 80 Meter Höhe schwebende Ballone, markiert werden sollen.

Die schwierige Finanzlage rührt auch daher, dass die regionalen Grosskonzerne nicht in einen gemeinsamen Topf investieren wollen. Das wirft einerseits ein schlechtes Licht auf das so oft beschworene Gemeinschaftsgefühl des Ruhrgebiets, und lässt andererseits auf Defizite der Programmanager bei der Sponsorenpflege schliessen. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats bekennt öffentlich: "Die Frage ist, haben die Menschen grössere Lust nach Istanbul oder ins Ruhrgebiet zu fahren? Dazu ist es notwendig eine nationale Debatte anzustossen." Geht es noch naiver?

Was unsere Kulturfunktionäre in Berlin - wer kennt sie schon? - vermissen lassen, ist die Nutzung von Gedenkjahren bei der Terminierung der deutsch-europäischen Kulturhauptstädte. So hätte sich angeboten, die deutsch-polnische Zwillingsstadt Görlitz/Zgorzelec für das Jahr 2009 zu nominieren und (gemeinsam mit den Polen) auch durchzuboxen. Der 2. Weltkrieg nahm bekanntlich vor 70 Jahren mit dem Überfall auf Polen seinen Anfang und mit den beiden Städten an der Neisse hätte man vor aller Welt das inzwischen eingetretene gutnachbarschaftliche Verhältnis demonstrieren können. Zur Finanzierung der kulturellen Events hätten sicherlich auch die Regierungen in Berlin und Warschau ihr Scherflein beigetragen und damit die zumeist knappen städtischen Etats entlastet.

Stattdessen wurde für das jetzige Jahr 2009 das Städtepaar Vilnius (Litauen) und Linz (Österreich) zu europäischen Kulturhauptstädten nominiert. Vilnius scheint mehr oder minder pleite zu sein, seit die litauische Regierung wegen der Weltwirtschaftskrise das Kulturbudget um satte 40 Prozent gekürzt hat. Viele fest geplante Veranstaltungen müssen deshalb ausfallen; die vollmundigen Versprechungen bei der Bewerbung vor fünf Jahren hat man einfach unter den Tisch fallen lassen.

Bei Linz - nun werde ich leicht sarkastisch - ist es genau umgekehrt. Diese Stadt hatte im Vorjahr 2008 ein "nationales Gedenkjahr". Der Österreicher Adolf H., nahe bei Linz geboren, wurde bekanntlich beim "Anschluss" im März 1938 - also ebenfalls vor 70 Jahren - von der Linzer Bevölkerung durchaus bejubelt, als er im offenen Auto durch diese Stadt fuhr. Das hat ihn vermutlich bewogen, Linz zur "Führerstadt" zur "Gründungsstadt des Grossdeutschen Reiches" zu ernennen. In der Nachkriegszeit war Linz als die östereichische Stadt mit der höchsten Luftverschmutzung berüchtigt. Allein, sie darf sich rühmen, immer wieder von prominenten österreichischen Schriftstellern zitiert worden zu sein.

So zum Beispiel von Thomas Bernhard, der in seinem Drama "Heldenplatz" einen Schauspieler sagen lässt: "In Linz geboren -allein das ein fürchterlicher Gedanke" oder von Ingeborg Bachmann, die freimütig bekannte: "Nie war ich in Linz, ich bin immer durchgefahren".

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