Samstag, 30. Juni 2012

KIT: der Elite-Titel ist futsch

Etwa 2,7 Milliarden Euro waren bei der kürzlichen Runde der Exzellentinitiative  in den nächsten 5 Jahren zu verteilen. Und in Karlsruhe war man siegessicher. Was sollte dem KIT schon anderes passieren, als eine erneute Bestätigung seines Elitestatus? Präsident Horst Hippler gab den Ton vor: "Ausscheiden - das ist einfach nicht vorgesehen. Am KIT kommt keiner vorbei". Satte 96 Millionen Euro hatte das KIT in den vergangenen 5 Jahren aus den Töpfen der Exzellenzinitiative erhalten. "Aber diese Summe ist nicht entscheidend", betonte Hippler, "das Renommee einer Elite-Uni lockt Spitzenforscher und bringt Drittmittel ein". 


Eine böse Überraschung

Und dann kam der 15. Juni 2012 - ein schwarzer Freitag. Um 15.30 Uhr ging Hippler bei einer arrangierten Veranstaltung ans Mikrofon und verkündete: "Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass unsere schlimmsten Befürchtungen wahr geworden sind." KIT war bei den Schlussabstimmungen der Exzellenzinitiative durchgefallen; der mit Stolz immer wieder präsentierte Titel "Elite-Universität" war  futsch. Der grösste maximale Unfall war eingetreten. Kein Wunder, dass die Sekttische leer blieben.

Mit diesem Abstieg aus der Champions Liga hatte kaum jemand gerechnet. Im Gegenteil, das KIT galt als unantastbarer Favorit für eine Wiederbenennung, entsprechend war die Zuversicht - um nicht zu sagen die Euphorie. Und nun dieses Desaster. Insbesondere für die Karlsruher Lokalpolitiker jedweder Couleur kam diese Abstimmungsniederlage als Schock. Zu gerne hatte man sich im Lichte einer herausragenden Universität gesonnt. Der Personalratsvorsitzende Wolfgang Eppler sah rabenschwarz: "Das ist eine mittlere Katastrophe für das KIT. Einige hundert Beschäftigte sind direkt von den Zuschüssen der Exzellenzinitiative abhängig".


Exzellenz-Universitäten; Sieger und Absteiger  (nach DFG)

Der Verlust des Elite-Titels bringt ein gewaltiges Image- und PR-Problem mit sich. Womit soll das KIT  (oder Göttingen und Freiburg) künftig werben? Dass es früher einmal "elitär" gewesen ist? Das wäre kontraproduktiv und geradezu lächerlich. Die neue Situation verschiebt auch die Machtzentralen innerhalb der alma mater. Die frühere Technische Hochschule Karlsruhe war dezentral geprägt durch ihre Fakultäten und deren Lehrangebote. Die Magnifizenz, der immer wieder wechselnde Rektor, war nur die notwendige Dekoration nach aussen. KIT hingegen wurde von anfang an streng zentral konfiguriert; das Präsidium übt operative Gewalt aus - fast wie der CEO in einer Aktiengesellschaft. Um die Präsidenten herum gibt es noch einen wohlbestückten Präsidialstab mit abgeleiteten Machtbefugnissen. Die Professoren und Dekane sind gaanz weit weg. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich nun das neue Machtnetz konstituiert, insbesondere nachdem der Gründungspräsident - siehe unten - so abrupt abhanden gekommen ist.

Die Schwachstellen

Die Verantwortlichen für dieses Debakel waren schnell gefunden. Die Forschungsanträge in den beiden Bereichen Nanotechnologie und Informatik waren durchgefallen. Und ohne diese sogenannten Exzellenzcluster war der Elitestatus nicht zu halten. Darüberhinaus sollen nach Medienberichten die Karlsruher Vertreter gegenüber den Gutachtern zu selbstbewusst, um nicht zu sagen zu arrogant aufgetreten sein. Eine Todsünde und absolut unprofessionell - sofern dieser Vorwurf stimmen sollte.

Dass sich das Institut für Nanotechnologie (INT) mit seinem Forschungsantrag "Funktionelle Nanostrukturen" im Wettbewerb nicht durchsetzen konnte, überrascht ganz besonders. Dieses Superinstitut wurde in den vergangenen 15 Jahren mit hohem finanziellen Aufwand aufgebaut und logiert nun in einem Gebäude, an dem nichts zu fehlen scheint. Auch die personelle Ausstattung ist hervorragend. Im Organigramm des INT sind 14 Abteilungen genannt, jede geleitet von einem Professor. Darüberhinaus gibt es noch 5 Gruppen, die von promovierten Wissenschaftlern geführt werden. Was in Erstaunen versetzt ist allerdings der Aufbau der Institutsleitung. Sie wird von Professor Horst Hahn und dem französischen Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn wahrgenommen. Letzterer wird im Karlsruher Institut nur höchst selten gesichtet. Zumeist weilt er in seinem Heimatland, wo er auch noch zwei weitere Professuren in Strassburg und Paris wahrnimmt. (Multitasking ist also doch möglich!) Sein Input auf die Leitung des INT erscheint dennoch eher marginal zu sein; möglicherweise verleiht er aber dem Institut die Aura der Nobilität!
Auch der deutsche Institutsleiter Horst Hahn ist in Karlsruhe nur zeitweise anzutreffen, da er gleichzeitig an der TU Darmstadt noch das Gemeinschaftslabor Nanomaterialien führt. Offensichtlich hat der frühere Geschäftsführer des Forschungszentrums (Popp ?) das genannte Führungsduo mit grosszügigen Anstellungsverträgen ausgestattet. Von einer Präsenzpflicht in Karlsruhe scheint darin nicht die Rede zu sein. Egal, wo man die Schuld für die Ablehnung des Forschungsantrags sucht: das INT hat sich dabei - trotz seiner opulenten Ausstattung - nicht mit Ruhm bekleckert.

 Im Bereich der Informatik wurde der Forschungsantrag "Verlässliche Software" ebenfalls abgelehnt. Hier scheint die Ursache klarer zu sein als im Falle der Nanotechnik. Das KIT ist in der Informatik im Vergleich zu früher zurückgefallen, wenn man den neuesten Bericht des CHE-Rankings zugrunde legt. Es belegt im Bewerberfeld der Universitäten nur noch einen guten Mittelplatz. Das KIT wird bei diesem Vergleich auf die gleiche Stufe gestellt wie die Uni Augsburg, die TU Clausthal, die TU Darmstadt, die Uni Kaiserslautern, die Uni Paderborn und das HPI Potsdam. Überflügelt wird das KIT von der Uni Passau und der Uni Saarbrücken. Von da her gesehen ist das Scheitern des KIT beim Exzellenzwettbewerb keineswegs überraschend. Es hat seine frühere Dominanz in der Informatik längst verloren. Die anderen waren einfach besser.

Der Kapitän geht von Bord

Das Scheitern des KIT hat tragische Züge, wenn man die jungen Forscher und die vielen kleinen Zulieferbetriebe ins Auge fasst. Sie tragen im Alltag zum grossen Teil die wissenschaftliche und betriebliche Last. Mit kurzlaufenden Verträgen und Aufträgen ausgestattet, werden sie die ersten sein, welche im KIT "freigesetzt" werden. Eine Korrektur des Auswahlergebnisses ist kurz- und mittelfristig nicht möglich, da die jüngste Initiative die letzte ihrer Art war. Wer jetzt "Elite" ist, bleibt es zumindest bis zum Jahr 2017; wer den Titel verloren hat, kann nicht nochmals antreten.

Vielleicht hat das KIT eine Chance bei der Auswahl zur Bundesuniversität, aber die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer hat hier bereits ihre Vorbehalte angemeldet. Und die Bundesbildungsministerin Annette Schavan ist wegen der immer noch andauernden Plagiatsdiskussion um ihre Doktorarbeit derzeit zu stark angeschlagen, um zu intervenieren. Der weitgehende Wegfall der Exzellenzmittel koinzidiert mit der Reduktion der Landesmittel im Gefolge des allgemeinen Sparprogramms. Frau Bauer hat bereits angekündigt, dass sie das wissenschaftliche Profil des KIT genau unter die Lupe nehmen wird. Es wäre nicht verwunderlich, wenn der Rotstift dabei die Restbestände der Kernforschung treffen würde, z. B. die Transmutation und die neuen Reaktoren.

Dass in dieser prekären Situation Professor Hippler, der "Vater" des KIT, Karlsruhe verlässt, um den vergleichsweise unwichtigen Job bei der Hochschulrektorenkonferenz in Hamburg anzutreten, ist schlechterdings unverständlich. Der Kapitän verlässt ( nach schlechtem italienischem Vorbild) das sinkende Schiff vorzeitig. Denn Hippler hat seine Arbeit bei KIT noch längst nicht getan. Im Gegenteil, der Rückschlag bei der Exzellenzinitiative fordert jetzt eigentlich jeden Mann - insbesondere ihn. Er hätte, zumindest bis Vertragsende, seine Stellung bei KIT halten sollen. So aber überlässt er seinem Co-Präsidenten Eberhard Umbach die ganze Last, das 9.200-Mann-Dickschiff KIT durch die Untiefen zu steuern. Eine grosse Aufgabe für jemanden, der bisher an der Universität Würzburg nur einige Dutzend Mitarbeiter ( mit grossem Erfolg) geführt hat.

Nein, Capitano Hippler hätte in Karlsruhe bleiben sollen, um sein Werk KIT nicht zu gefährden. In längst vergangenen Zeiten hätte man ihm zugerufen:

"Hic Rhodos, hic salta!

Sonntag, 24. Juni 2012

Deutschland soll die Welt retten

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, bestand Frankreichs Präsident Francois Mitterand auf einer stärkeren Einbindung des nun grösseren Deutschlands in den europäischen Verbund; andernfalls hätte er die Wiedervereinigung bei den 2 plus 4 Verhandlungen blockiert. Unter anderem forderte er einen gemeinsamen europäischen Währungsverbund, also den Euro. Bundeskanzler Kohl, der vorher immer eine vorausgehende politische Union verlangt hatte, gab schliesslich nach. Sein damaliger Innenminister Wolfgang Schäuble räumte später ein: " Die Preisgabe der D-Mark war eine der Konzessionen, die dazu beigetragen haben, den Weg zur deutschen Vereinigung zu ebnen".
In den Verträgen von Maastricht gelang es dem Finanzminister Theo Waigel noch zwei wichtige Bedingungen in die Euro-Verträge einzubauen: die Klauseln no bail out und no transfer. Im Klartext heisst das: Jedes Euro-Land muss für seine eigenen Schulden aufkommen  und  Es gibt keine Geldüberweisungen an Schuldnerländer.

Der Ruf nach den Eurobonds

Die traurige Realität, gut zehn Jahre nach Einführung des Euro, ist folgende: Griechenland hat sich durch Betrug und unter Mithilfe der "Finanzexperten" von Goldman-Sachs in die Euro-Länder geschummelt. Darüberhinaus hat es seitdem hunderte von Milliarden Schulden angehäuft, u. a. deswegen, weil es nur ein marodes Steuersystem besitzt und die Korruption in diesem Land allgegenwärtig ist. Die spanische Regierung hat eine gigantische Immobilienblase zugelassen. Hunderttausende von Wohnungen an den Küsten stehen leer und bringen keine Rendite. Die beleihenden Hypothekenbanken sind praktisch pleite und musten kürzlich vom Staat (unter Mithilfe der EU) "gerettet" werden. In Italien geht die Wirtschaft seit Jahren bergab, inbes. wegen der Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt. Portugal, Irland und (neuerdings) Zypern stöhnen unter ihren Schuldenbergen aus ähnlichen Gründen.

Die genannten Länder waren es gewohnt, sich jedes Jahr mit -zig Milliarden Euro neu zu verschulden. Der Zinssatz für zehnjährige Anleihen lag bei moderaten 3 Prozent oder gar darunter. Er ist nun auf 6 bis 7 Prozent gestiegen, weil die Käufer dieser Anleihen ihr Risiko höher bewerten, was sich im Zinssatz niederschlägt. Im Gegenzug liegt der Zins für deutsche Anleihen mittlerweile bei 1 bis 0 (!) Prozent.

Aus dieser Sachlage heraus kam die Idee der Eurobonds auf. Dies wären gemeinsame Anleihen der Euroländer. Die Zinsen für die ärmeren Länder würden fallen, für die reichen, wie Deutschland, würden sie steigen. Finanzexperten haben ausgerechnet, dass Deutschland bei Einführung der Eurobonds jährlich 47 Milliarden Mehrkosten haben würde. Kein Wunder, dass sich die Bundeskanzlerin Merkel gegen die Idee der Eurobonds stemmt. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sie klar gegen das EU-Recht verstossen  (siehe oben) und weil das Bundesverfassungsgericht dagegen wohl Bedenken hätte.


Der Fiskalpakt und weitere Gedankenmodelle

Um das Vertrauen der Anleger wieder zu gewinnen, schlägt die Kanzlerin den sogenannten Fiskalpakt vor. Das ist die Verpflichtung aller Länder, die Neuverschuldung in absehbarer Zeit schrittweise auf Null abzusenken. Um diese Absicht glaubhaft zu machen, soll diese Schuldenbremse in der Verfassung verankert werden. Dagegen wehren sich die meisten Schuldnerländer, insbes. Frankreich. Stattdessen werden allerlei Varianten vorgebracht. Eine ist die sog. Bankenunion. Mit ihr gäbe es keine deutschen oder spanischen Banken mehr, sondern nur noch europäische Institute. Das Problem: der Bankenrettungsfonds wäre ebenfalls mit einer Vergemeinschaftung von Risiken verbunden. Aussdem müsste die Brüsseler Behörde Durchgriffsmöglichkeiten auf die nationalen Banken haben, was von den meisten Staaten abgelehnt wird.

Eine (theoretisch) nie versiegende Geldquelle ist die Europäische Zentralbank (EZB). Sie druckt ihr Geld selbst und muss dafür noch nicht einmal die Zustimmung der nationalen Parlamente einholen. Warum sollte sie nicht die maroden Anleihen der Schuldnerländer, wie Griechenland etc. aufkaufen und in Euros umwandeln - wie es die amerikanische Fed bereits macht? Nun die EZB darf dies aus rechtlichen Gründen nicht tun, u. zw. aus folgenden Gründen: sie würde allmählich zu einer "Bad Bank" werden und die Nationalbanken (wie die Deutsche Bundesbank) hätten für ihr Defizit einzustehen. Leider ist dieser Sündenfall in einigen Notfällen bereits geschehen.


Deutschland unter Druck

Inzwischen blickt alle Welt nach Deutschland, dem scheinbaren Gewinner der Euroeinführung. Bei dem kürzlichen G 20-Treffen in Mexiko ist Bundeskanzlerin Merkel unter erheblichen Druck geraten. Konjunkturprogramme werden gewünscht, insbes. vom französischen Präsidenten Francois Hollande. Aber woraus finanzieren bei leeren Kassen? Zur Erinnerung: das letzte deutsche Konjunkturprogramm vor drei Jahren für die Abwrackprämien etc. hat 400 Milliarden Euro gekostet und das deutsche Staatsdefizit auf 2.000 Milliarden hochschnellen lassen.

Auch Journalisten, zumeist angelsächsischer Herkunft, versuchen die Bundeskanzlerin unter Druck zu setzen. Geradezu hysterisch wird sie bedrängt, den Sparkurs aufzugeben und damit Europa zu retten. Deutschland müsse seine Verpflichtung für Europa in ähnlicher Weise wahrnehmen, wie vor 20 Jahren für Ostdeutschland. Aber dieser Vergleich hinkt: schon 17 Millionen Ostdeutsche kosteten Westdeutschland 1,5 bis 2 Billionen Euro. Das lässt erahnen, was 300 Millionen Menschen in Europa kosten würden.

Nein, jedes Land der Eurozone muss begreifen, dass man sich nicht auf Kosten anderer exzessiv verschulden darf und, dass die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit nicht ohne Opfer zu erreichen ist. 6 bis 7 Prozent Zinsen für zehnjährige Anleihen waren auch in der der vor-Euro-Zeit für Südländer nicht unüblich. Warum sollte Deutschland jetzt beispringen? Die Bundesregierung muss hart bleiben, wenn sie nicht selbst mit in den Finanzstrudel gerissen werden will!

Unverfrorene Forderungen kommen in den letzten Tagen aus den USA. Dort kämpft Präsident Barack Obama um seine Wiederwahl und die Aussichten dafür sind nicht gut, denn die Wirtschaft befindet sich auf Talfahrt. So lässt er ihm wohlgesonnene Kongressmitglieder und Journalisten auf die deutsche Kanzlerin eindreschen. Sie solle endlich ein Konjunkturprogramm anwerfen, das nicht nur Europa, sondern auch auch Amerika aus der Krise hilft. Veranlassung dafür bestehe, denn immerhin hätten die Deutschen den 2. Weltkrieg verursacht und den Holocaust! Gegen diese Tatsachenbehauptungen kann man nur auf eine weitere Tatsache hinweisen: das US-Defizit ist mit 20 Billionen zehn mal so hoch wie das deutsche mit 2 Billionen. Vielleicht wären gerade mal die Chinesen in der Lage, den amerikanischen Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Obama hat seinen Wahlkampf vor vier Jahren unter anderem mit dem Slogan "Yes, we can" gewonnen. Möglicherweise erhöht es Frau Merkels Wahlchancen in 2013, wenn sie kontert mit

"No, we can´t".

Samstag, 16. Juni 2012

Frischer Wind bei der Documenta 13

Es ist Documenta-Zeit. Kassel ruft wieder. Seit mehr als vier Jahrzehnte lassen meine Frau Brigitte und ich uns dieses Ereignis nicht entgehen. Die Documenta ist die weltweit wichtigste Ausstellung bei der man Gegenwartskunst hautnah erleben kann.

Schöne Reminiszenzen

Von der Documenta 4 (genannt d4) im Jahr 1968 sind mir noch die Versuche des Künstlers Christo in Erinnerung, der sich mühte, ein 5.600-Kubikmeter-Ensemble aus verpackter Luft senkrecht aufzustellen (im Volksmund "Wurst" genannt), was ihm erst nach etlichen Versuchen gelang.
Die d5 war geprägt durch die Happenings von Joseph Beuys. Noch deutlich vor Augen habe ich das eindrucksvolle Environment "Five Car Studs" von Ed Kienholz über die Kastration eines Schwarzen in den US-Südstaaten.
Von der d6 ist mir  Walter de Marias vertikaler Erdkilometer in Erinnerung, von dem noch heute eine kleine Messingscheibe in einer Sandsteinplatte zeugt.
Die d7 war geprägt durch die gigantische Spitzhacke des Claes Oldenburg, welche man jetzt noch am Ufer der Fulda besichtigen kann. Noch wichtiger für das Stadtbild aber waren die 7.000 Eichen, die Beuys im Rahmen einer Aktion in der Autostadt Kassel pflanzen liess.
Die d8 war gekennzeichnet durch allerlei Skandale. Im Austellungsgebäude Friedericianum montierte der Künstler Hans Haacke das Logo der Deutschen Bank mit dem Mercedes-Stern zusammen, um auf die Verflechtung mit dem Apartheit-System in Südafrika zu verweisen.
Bei der d9 im Jahr 1992 errichtete der Nigerianer Mo Edoga aus Abfallholz einen "Signalturm der Hoffnung". Jonathan Borofsky liess vor dem ehemaligen Hauptbahnhof einen Reisenden als "Himmelsstürmer" auf einem 25 Meter langen Stahlrohr hochmarschieren, das in einem steilen Winkel von 60 Grad aufgestellt war.

Im Jahr 1997, bei der d10, war erstmals eine Frau als Kuratorin am Ruder, die Französin Catherine David. Sie wollte die Ernsthaftigkeit durch mehr konzeptionelle Kunst zurückbringen, was ihr allerdings nur teilweise gelang. Das Künstlerpaar Carsten Höller und Rosemarie Trockel richtete ein "Haus für Schweine und Menschen" ein und Christoph Schlingensief lief mit einem Schild durch die Gegend, auf dem zu lesen war "Tötet Helmut Kohl".
Die d11 konzipierte fünf Jahre später der Nigerianer Okwui Enwezor. Sie war sehr politisch und durch ihre Diskussionsforen und Videobotschaften geprägt.
Die d12 im Jahr 2007, kuratiert von Roger Buergel und seiner Frau Ruth Noack verhalf dem Chinesen Ai Weiwei zum Durchbruch. Er errichtete in der Karlsaue die Skulptur "Template", bestehend aus Fenster und Türen, die er aus Abrisshäusern seiner Heimat geborgen hatte. Vier Tage nach der Eröffnung liess ein Gewittersturm das Kunstwerk zusammenbrechen. Es wurde nicht wieder aufgebaut, da die Ruine noch gewaltiger wirkte, als das ursprüngliche Werk.

Die geheimnisvolle Frau CCB

Die diesjährige Leiterin der Documenta 13 heisst Carolyn Christov-Bakargiev, von ihren Mitarbeitern kurz CCB genannt. Sie wurde 1957 in New Jersey, USA, geboren, der Vater stammte aus Bulgarien, die Mutter war Italienerin. CCB studierte Kunstgeschichte in Frankreich und Italien und war später an verschiedenen, bedeutenden Museen in den USA und in Europa tätig. Ihr Spezialgebiet sind die Arte Povera und die einfach geformten Vasen ihrer Kindheit. Hinzu kam der amerikanische Minimalismus, eine Kunstauffassung, die man als leicht franziskanisch bezeichnen könnte.


Carolyn Christov- Bagargiev, die Leiterin der Documenta 13

Im Jahre 2009 wurde sie zur Kuratorin der d13 ausgesucht - ein Traumjob, der mit einem Budget von 25 Millionen Euro ausgestattet ist. Seitdem durchstreiften sie und ihre Co-Kuratoren, die verschwörerisch "Agenten" genannt werden, die ganze Welt und stöberten in den entlegensten Winkeln Künstler auf, die meist noch nicht arriviert waren, die aber dennoch viel zu sagen hatten. Knapp 200 haben sie gefunden, die mit 160 Werken in Kassel vertreten sind. Ihre Namen hat CCB bis zum Schluss geheim gehalten, ebenso wie die Botschaft der Ausstellung. Gedankenfetzen wie "der Mensch steht nicht im Mittelpunkt" oder "es gibt keinen Unterschied zwischen Kultur und Natur" tauchten immer wieder unkommentiert in den Medien auf und brachten sie in die Nähe von Esoterik und Magie. "Zerstörung und Wiederaufbau" ist eine andere Metapher, die aber auch der Banalität ziemlich nahe kommt.

Trotzdem: Frau Christov-Bagargiew ist nicht unbescheiden. Eine Million Besucher will sie in den nächsten hundert Tagen nach Kassel locken - 250.000 mehr als 2007 bei ihrem Vorgänger Buergel, dem damit bereits ein Rekord gelang. Alles hat sich den künstlerischen Visionen der Chefin unterzuordnen. Beinahe alles. Denn als eine kleine katholische Kirche in der Nähe eine Christus-Figur von Stephan Balkenhol in ihren Glockenturm platzierte, die direkt auf das Museum Friedericianum gerichtet war, verlangte sie deren Entfernung. Vergeblich, und seit dies zu einer kleinen Medienaffäre wurde, gibt es wohl keinen Documentabesucher, der nicht mit leichtem Schmunzeln auf dieses (Konkurrenz-) Kunstwerk schaut.

Sehenswerte Kunstwerke

Anbei eine kleine Auswahl sehenswerter Kunstwerke, geordnet nach ihrer Präsentation an den Hauptorten der Documenta 13. Der Klammerausdruck zu Beginn benennt die Katalognummer und den Namen des Künstlers.

Friedericianum

(Nr. 67 - Ryan Gander).  Eine Überraschung empfängt den Besucher im Friedericianum: das gesamte Erdgeschoss ist leer geräumt. Stattdessen weht eine leichte Brise durch die Räume. Wollen der Künstler (und die Kuratorin) damit sagen, dass bei der d13 ein neuer Wind weht? - Sehr beeindruckend!
(Nr. 106 - Goshga Macuga).  In der Rotunde wird eine riesige halbkreisförmige Fotografie gezeigt, auf der Gebäude und Personen in Kabul und Kassel ineinander montiert sind. Daraus ergibt sich ein politischer Hintersinn für die Zerstörungen und den Wiederaufbau, den beide Städte in ihrer jüngeren Kriegsgeschichte erlebt haben. Man kann darüber witzeln, ob CCB auch die Kunst am Hindukusch verteidigen will.
(Nr. 17 - Kader Attia).  Der Künstler zeigt Holzfiguren, die nach plastischen Operationen an Soldaten im ersten Weltkrieg angefertigt wurden. Darüberhinaus Objekte, wie Stahlhelme, denen durch Reparatur etc. eine neue Ästhetik verliehen wurde. Superb, geht aber unter die Haut!
(Nr. 192 - Anton Zeilinger).  Der bekannte - und seriöse - österreichische Physiker hat auf Drängen der Ausstellungsleiterin eine Reihe von kernphysikalischen Experimenten aus der Quantenmechanik aufbauen lassen. Sie zeigen die Interferenz am Doppelspalt, den Dualismus Teilchen/Welle und das Unschärfeprinzip. Auf meine Frage, wo die Berührung mit der Kunst sei, verwies er auf CCB, welche allerdings nicht anwesend war.  Als gelernter Physiker bin ich mir bei diesen Objekten hinsichtlich ihrer Ästhetik unsicher.

Documenta-Halle

(Nr. 108 - Nalini Malani).  Der Zuschauer findet sich umfangen von einer Kombination aus projizierten Videos und Schatten von Hinterglasmalereien. Die rotierenden durchsichtigen Zylinder sind wohl ein Verweis auf buddhistische Gebetsmühlen. Werden die Mühlen in Bewegung gesetzt, tauchen Motive aus der Kunstgeschichte und Sagenwelt auf und bilden neue Bedeutungen um sich anschliessend wieder zu trennen und weiter zu wandern - ein schwebender Prozess des Werdens und Vergehens. Möglicherweise das beeindruckenste Objekt der d13!
(Nr. 113 - Julie Mehretu).  Diese grossformatigen Gemälde sind geistige Landschaften mit historischen, architektonischen und geografischen Verweisen. Der zeitraubende Prozess ihrer Herstellung führt zu einer Vielzahl codierter Informationen und veranschaulicht wohl die chaotische Geistesverfassung unseres Jahrhunderts. Sehr beeindruckend!

Karlsaue

(Nr. 133 - Giuseppe Penone).  Dem Künstler dient seit langem der Baum als Leitmotiv. Im Tiefgestade von Kassel, dem ehemaligen Lustgarten, hat er bereits 2010 den Bronzeguss eines Baumes augestellt. Die Skulptur trägt in ihren Geäst einen tonnenschweren Stein; gleichsam schwebend entzieht sich dieser der Erdschwere. Am Baumfuss ist eine kleine, frisch gepflanzte Eiche - vermutlich eine Verbeugung vor Beuys. Die Arbeit ist ein Publikumsrenner und ein echter Hingucker.
(Nr. 145 - Araya Rasdjarmrearnsook).  Die Künstlerin lebt in einem kleinen Haus, das durch einen Zaun abgeschirmt ist. Sie teilt dieses Wohnumfeld mit einem Hund ("Dogumenta"). In den Fenstern des Hauses sind Monitore angebracht auf denen Videos von streunenden Hunden auf den Strassen Thailands gezeigt werden. Sie sollen die derzeitige politische Lage des Landes symbolisieren.
(Nr. 76 - Fiona Hall).  Die Objekte dieser Künstlerin beeindrucken durch ihre grazile und verstörende Schönheit und geben damit tiefe Einblicke in die Auswirkungen der Globalisierung auf unsere Umwelt. Für die d13 hat Hall ein Holzhaus in ein fantastisches Museum irgendwo zwischen Jägerhütte und Kuriosenkabinett verwandelt. Super!
(Nr. 37 - Janet Cardiff & George Bures Miller).  Ein Hörerlebnis in einer versteckten kathedralenartigen Lichtung in einem Waldstück der Karlsaue. Das Publikum ist eingeladen unter Bäumen zu sitzen, während sich eine komplexe Audiokomposition entfaltet. Die Geräusche von dreissig in der Natur angeordneten Lautsprecher führen die Zuhörer wie im Traum von einer Szene zur nächsten. Man glaubt, das Gras wachsen zu hören. Unbedingt hörenswert!
(Nr. 165 - Song Dong).  Dieser "Doing Nothing Garden" ist nichts weiter als ein sechs Meter hoher Müllberg vor der Orangerie. Er besteht aus geschichteten Abfällen von Schutt und organischen materiealien. Da er schon mit Gras und Blumen überwachsen ist, bestätigt er CCB´s Motto vom Vergehen und Wiederauferstehen. Ein Hingucker!

Ottoneum

(Nr. 9 - Maria Thereza Alves).  Das Kunstwerk beschäftigt sich mit den Umweltsünden und der Wasserpolitik der Metropole Mexiko-Stadt. Seen werden trocken gelegt, Grundwasser wird exzesiv abgepumpt, sodass die eingeborene Bevölkerung nicht nur in Not sondern auch in Gefahr gerät, dass sich ihre Grundstücke kontinuierlich absenken. Wäre das beste Negativbeispiel für den Tag des Wassers.

Neue Galerie

(Nr. 59 - Geoffrey Farmer).  Seine Arbeit besteht aus Hunderten von Schattenspielpuppen aus Fotos, die der Künstler aus der klassischen amerikanischen Illustrierten "Life" ausgeschnitten hat. Die Bilder entstammen aus fünfzig Jahrgängen des Magazins von 1935 bis 1985, einer Zeit, in der Millionen von Amerikanern ihre Sicht der Welt aus Life bezogen haben. Durch seine Technik der Fotomontage verflüchtigt sich Zeit und Raum und der Betrachter gewinnt eine ganz neue historische Sicht. Sehenswert!


Hauptbahnhof

(Nr. 44 - István Csákány).  Hinter einem Schaufenster befinden sich in zwei Reihen aufgestellte Nähmaschinen, Bügelmaschinen und Gegenstände, wie sie typischerweise in Nähwerkstätten zu sehen sind - aber allesamt kunstvoll aus Holz geschnitzt. Die etwas überlebensgrossen Maschinen beschwören das Bild eines stillgelegten Betriebs herauf, dessen Gerätschaften, Kabel und Neonröhren sämtlich unversehrt sind. Die von Hand gearbeiteten Maschinen und die Stoffanzüge nebenan bringen die einstmals enge Beziehung zwischen Arbeit und Kunst in Erinnerung. Unbedingt sehenswert!
(Nr. 184 - Clemens von Wedemeyer).  Ein hochkomplexes, aber sehr eindringliches Video von drei Spielorten: dem KZ Breitenau, dem Einrücken der US-Truppen nach Kassel und den Insassen eines Mädchenerziehungsheims in den 70er Jahren. Der letztgenannte Abschnitt lehnt sich frei an Ulrike Meinhofs Film "Bambule" an. Die drei getrennten Filmschleifen greifen an vielen Stellen ineinander, sodass die Zeitebenen zusammenfallen. Darüberhinaus verwischen optische Effekte, wie Schatten, Rückprojektionen und Doppelbelichtungen, die Grenzen zwischen den Zeitstufen. Unbedingt sehenswert!
Nr. 93 - William Kentridge).  Im Mittelpunkt von Kentridges Arbeiten steht die Zeit. In seinem Werk "The Refusal of Time" beleuchtet er die moderne Gesellschaft mit ihrer Vernetzung der standardisierten Uhren. Newtons Masszeit und Einsteins Relativitätstheorie treffen als Gegensätze aufeinander und werden von riesigen projizierten Metronomen dirigiert.
(Nr. 61 - Lara Favaretto).  Ein riesiger, aber eindrucksvoller Abfallhaufen aus Altmetall am Ende des Hauptbahnhofs. Für die Kasselaner Bürger ein Grund zum Lästern ("Ist das etwa Kunst"?). Sei´s drum, auf alle Fälle ein Hingucker!


Fazit

Die Documenta 13 ist eine Reise wert, aber mindestens zwei Tage einplanen.
Also Freunde, ab nach Kassel!



Sonntag, 10. Juni 2012

Napoleons erstes Waterloo

Die historische Einschätzung von Napoleon Bonaparte ist seit jeher grossen Schwankungen unterworfen. Die einen - und das sind mehrheitlich die Franzosen - sehen in ihm den genialen Feldherrn, der die Französische Revolution zu einem guten Ende führte, indem der die Zerrissenheit des Landes beseitigte und Ordnung in die Verwaltung und Rechtsprechung brachte. Für die anderen - und das sind nahezu alle Nachbarländer - ist Napoleon der grösste Kriegstreiber und Gewaltherrscher der Neuzeit, dessen Rücksichtslosigkeit keine Grenzen kannte und der schliesslich zu Recht zur Strecke gebracht wurde.

Die Überquerung der Memel

Das Ende Napoleons bahnte sich genau vor 200 Jahren an, als er im Juni 1812 mit einem grossen Heer die Memel überquerte, den Grenzfluss zum russischen Reich. Napoleon wollte den Zaren Alexander I. dafür bestrafen, dass dieser aus der gegen England verhängten Wirtschaftblockade, der sogenannten Kontinentalsperre, ausgeschert war. Alexander hatte kaum eine andere Wahl, denn er brauchte die hochwertigen Industriegüter des Inselreichs im Austausch gegen Holz, Getreide und Hanf aus Russland. Die Situation steuerte auf einen Krieg zu, als beide Seiten fieberhaft mobil machten.

Am 24. Juni 1812 überschritt die Grand Armée auf drei von holländischen Hilfstruppen gezimmerten Pontonbrücken den Memelfluss. Napoleon konnte auf 450.000 Mann zählen; weitere 150.000 requirierte er aus den europäischen Nachbarländern. Die Russen konnte demgegenüber nur 242.000 Mann aufbieten. Napoleon spekulierte auf eine baldige Schlacht, woraus er als Sieger hervorzugehen glaubte. In zwei Monaten wollte er zurück in Paris sein.



Napoleon Bonaparte
(Gemälde in Versailles)

Aber zu dieser Schlacht kam es nicht. Die russischen Truppen wichen permanent zurück und liessen sich allenfalls auf kleinere Scharmützel ein. So fielen den Franzosen die Städte Wilna und Witebsk nahezu kampflos in die Hände und schon am 17. August konnten sie (nach einigen Vorpostengefechten) in Smolensk einziehen. Allerdings war die Stadt in ein Flammenmeer gehüllt, weil die Russen entsprechend ihrer Taktik der "verbrannten Erde" vorher alles zerstört hatten, was ihrem Gegner von Nutzen hätte sein können.

Die Gewaltmärsche, in denen Napoleon den zurück weichenden Russen hinterher hechelte, hatten ihren Preis. Es wurde immer schwerer, den Nachschub heran zu schaffen. Tausende von Pferden starben an Hunger, viele der zum Militärdienst gezwungenen Nichtfranzosen desertierten. So bestand die Grand Armée in Smolensk nur noch aus 160.000 Mann. Einige seiner Unterführer rieten Napoleon eine Rast zur Konsolidierung einzulegen, aber der stolze Franzose weigerte sich mit dem berühmten Ausspruch: "Der Wein ist eingeschenkt, er muss getrunken werden".

Die Eroberung von Moskau

Moskau war das Ziel. Beim Dorf Borodina kam es dann doch aber noch zur ersehnten Schlacht. Es war ein furchtbares Gemetzel. 130.000 Franzosen standen etwa gleichvielen Russen gegenüber. Am Schluss zählte man 80.000 Tote und Verwundete, 35.000 Franzosen und 45.000 Russen.  Menschen und Pferde, Tote und Verwundete lagen in mehreren Schichten übereinander - ein entsetzlicher Anblick. Napoleon hatte zwar knapp gesiegt, aber dem russischen Feldherrn Kutusow gelang aufgrund der besseren Ortskenntnis der geordnete Rückzug.

Napoleon hetzte weiter nach Moskau und am 14. September erreichten seine Truppen endlich diese Stadt. Aber sie war, zur grossen Überraschung der Franzosen, menschenleer. Niemand liess sich sehen, keine Gefechte entwickelten sich. Am darauffolgenden Tag allerdings brannte Moskau lichterloh. Der Militärgouverneur Rostoptschin hatte die Brände legen lassen und als der Wind die Flammen anfachte, brannten zwei Drittel der Hauptstadt nieder. Napoleon quartierte sich im (noch intakten) Kreml ein und wartete darauf, dass die russischen Unterhändler kamen und ihm formell die Schlüssel der Stadt übergeben würden. Aber nichts tat sich, kein Russe liess sich blicken. Später wurde bekannt, dass sich Zar Alexander I. längst nach St. Petersburg abgesetzt hatte und von dort den Lauf der Dinge beobachtete. Die gemeinen französischen Soldaten indes richteten sich, so gut es eben ging, in den Ruinen der Stadt ein und waren immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Aber es war wenig zu finden, denn die Taktik der vebrannten Erde wirkte auch hier.

Dramatischer Rückzug

Napoleon wartete etwa einen Monat lang vergebens im Kreml ohne, dass es zu irgendwelchen Kontakten mit russischen Offiziellen kam. Als die Temperaturen fielen und  der Winter sich bemerkbar machte, entschloss er sich zum Rückmarsch. Seine Armee umfasste damals noch 95.000 Mann und es war seine Absicht, diesmal eine südlichere Route zu wählen. Das verhinderte jedoch sein schlauer Gegner Kutusow. Er zwang ihn auf der gleichen Route zurückzukehren, auf der er gekommen war. Sehr bald wurde die Verpflegung der Truppen zu einem gravierenden Problem. Hinzu kamen immer wieder Gefechte mit plötzlich auftauchenden Kosakentruppen, auf deren Taktik ("zuschlagen und zurückweichen") die Franzosen nicht eingestellt waren. Als Napoleon am 9. November wieder Smolensk erreichte, war seine Armee auf 50.000 Mann abgeschmolzen.

Inzwischen hatte der russische Winter voll eingesetzt; die Temperaturen waren auf unter minus 2o Grad Celsius gefallen. Viele Soldaten erfroren mangels ausreichender Bekleidung - sofern sie nicht vorher verhungert waren, denn auf dem ganzen Rückzug gab es nichts zu plündern. Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen, denn der Fluss Beresina, auf dem schon die Eisschollen trieben,  war zu überqueren. Die Russen hatten die Holzbrücken zerstört und abermals mussten holländische Pioniere Notbrücken bauen. Unter dem Feuer der russischen Artillerie drängten sich Napoleons Truppen auf die schwankenden Brücken und es kam zu riesigen Verlusten. Am 16. Dezember bestand die Armee nur noch aus 16.000 Mann, allesamt grossen Hunger leidend, sodass es sogar zu Kannibalismus kam. Die Temperatur war auf minus 37 Grad fallen.

Napoleon hatte inzwischen den Oberbefehl seinem Schwager Joachim Murat, dem König von Neapel, übertragen. Er selbst eilte inkognito, als "Sekretär" seines Grosstallmeisters in Schlitten und Kutsche nach Paris zurück, wo er am 18. Dezember in den Tuilerien eintraf. Das Ende ist bekannt. Napoleon gelang es zwar nochmals ein Heer auszuheben, aber in der Völkerschlacht bei Leipzig musste er sich den Preussen, Österreichern, Engländern und Russen beugen. Er wurde abgesetzt und mit einer Jahresrente von 2 Millionen Francs auf die Insel Elba verbannt.

Doch schon nach einem knappen Jahr büxte er dort wieder aus und seine Franzosen empfingen ihn wieder mit grossem Hurra. Das zweite napoleonische Kaisertum dauerte allerdings nur hundert Tage. Als er die Schlacht im belgischen Ort Waterloo verloren hatte, verschifften ihn die Engländer auf ihre Insel St. Helena, wo er 1821 an Magenkrebs verstarb. Er war 52 Jahre alt geworden.

Heute ist sein Sarkophag in der Kuppel des Pariser Invalidendoms zur Schau gestellt.

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