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Samstag, 5. August 2017

Die "documenta 14" auf Abwegen

Die "documenta" ist die weltweit bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Sie findet alle fünf Jahre statt (früher alle vier Jahre) und dauert jeweils 100 Tage, weswegen sie auch als das Museum der 100 Tage bezeichnet wird. Die erste documenta, die documenta 1, wurde 1955 veranstaltet und ging auf die Initiative des Kunsthistorikers Arnold Bode zurück. Der Standort aller documenta-Ausstellungen war bisher stets die hessische Stadt Kassel. Die diesjährige documenta 14 wurde am 10. Juni 2017 in Kassel eröffnet; gleichberechtigter Standort ist erstmals die griechische Hauptstadt Athen, wo die Eröffnung schon früher, nämlich am 8. April 2017 erfolgte.

Mit meiner Familie und Freunden habe ich alle zehn documenta-Ausstellungen seit 1968 in Kassel jeweils mehrere Tage besucht und die vielen Objekte, Skulpturen und Installationen zumeist sehr genossen. In Erinnerung bleibt mir die Honigpumpe des Künstlers Joseph Beuys im Museum Fridericianeum. Dabei ließ Beuys drei Zentner Honig durch ein System von 170 Metern Schläuchen bis hinauf zur Lichtkuppel pumpen und behauptete, damit ein Modell der menschlichen Gesellschaft gefunden zu haben. Im Detail konnte man seine Philosophie wortreich in einem Begleitbuch von Klaus Staeck nachlesen. Beuys stellte sich auch den Kommentaren der Besucher und ließ meine kritischen Physikereinwendungen zur Thermohydraulik seines Systems gelassen abtropfen.

Auf die documenta 14 habe ich mich eigentlich seit Jahren gefreut und der Besuch im August war fest eingeplant. Nun, da die Ausstellung begonnen hat und zögere ich mit meiner traditionellen Wallfahrt nach Kassel. Einige Dinge, die ich über die Medien erfahren habe, dämpfen meine Reiselust. In diesem Blog möchte ich meine daraus abgeleitete Skepsis begründen.


"Von Athen lernen"?

Dass die Filmstadt Cannes oder der Biennale-Ort Venedig sich mit einer weitaus größeren Stadt (wie etwa Bukarest oder Warschau) verbünden und damit ihre weltweite Identität aufgeben, ist schlechterdings undenkbar. Aber der documenta-Metropole Kassel ist dies mit Athen gelungen. Die griechische Hauptstadt hatte sogar die Ehre, die D14 im April zu eröffnen. Der polnische Chefkurator Adam Szymczyk  lancierte schon bald nach seiner Ernennung im Jahr 2013 die Idee einer "Doppel-Documenta" und der D14-Aufsichtsrat ließ dies fahrlässigerweise zu. Gleichsam als "Kunst-Airbnb" flogen wöchentlich zwei Flugzeuge von Kassel nach Athen und zurück. Inwieweit Adams in Athen wohnende Gattin Alexandra hinter dem ganzen Unternehmen steckt, ist Stoff für mediale Spekulationen; im Internet wird jedenfalls über "polono-hellenischen-Nepotismus" gemunkelt.

Gewiss, von Athen konnte man Vieles lernen - aber das ist 2.500 Jahre her, in der kurzen Periode der Geistesgrößen Platon, Perikles und Aristoteles. Danach regierte das Römische Imperium und noch später kam das dunkle halbe Jahrtausend des Osmanischen Reiches hinzu, wodurch das "klassische Griechenland" vollends unterging. Der mythisch schillernde Ruf von Hellas als "Wiege der Demokratie und Philosophie" war damit vorbei. Heute ist Athen die wirtschaftlich etwas herunter gekommene Kapitale eines verarmten Landes, das unter Finanzproblemen und dem Flüchtlingszustrom leidet. Dagegen war Kassel stets eine geruhsame Residenz-und Beamtenstadt mit bedeutenden eigenen Kunstschätzen.

Eine Ausstellung lebt auch vom Ort, an dem sie stattfindet - und die Orte, die das Kuratorenteam in Athen zur Präsentation ihrer Kunstwerke gefunden hat, sind außergewöhnlich. Es sind Hochschulen, Wohnungen, Gassen, Bars, Friedhöfe, Läden, Plätze etc. Die Kunst bespielt sozusagen die ganze 4-Millionen-Einwohner-Stadt und ist trotzdem schwer zu entdecken. Einer der Hauptorte der D14-Athen, das Nationale Museum für Gegenwartskunst (EMST), lag bis vor kurzem in einem Dornröschenschlaf. Es ist - aus Geldgründen - nie eröffnet worden; die meisten Künstler, deren Werke dort gezeigt werden, sind selbst den Fachleuten nicht bekannt. Da gab die Performance von Ross Birrell schon mehr her: er ließ einen Athener Reiterverein nach Kassel reiten, mehr oder minder auf der Route, welche auch 2015 die Flüchtlinge nach Deutschland nahmen.


Ab nach Kassel

Als der Hengst Hermes mit vier Wanderreitern in Kassel einrückte, war der zentrale Friedrichsplatz gefüllt mit Zuschauern. 20 Hobbyreiter hatten den Tross auf dem letzten Streckenabschnitt begleitet. Nach 3.000 zurückgelegten Kilometern endete so eine der meistbeachteten Aktionen der documenta Athen-Kassel. Eine Frau und drei Männer waren auf ihren  Pferden 100 Tage unterwegs gewesen.

Den Ursitz aller documenta-Ausstellungen, das Fridericianeum, hat der schüchtern erscheinende D14-Macher, Adam Szymczyk, den Griechen gleich ganz überlassen. Depotkunst aus dem EMST, jahrzehntelang aus guten Gründen versteckt, macht sich nun im Kasselaner Parademuseum breit. Viele Werke mit Stacheldraht, Nationalfahnen aus Glas und weitere schöne Belanglosigkeiten
zieren deren Räume. Künstler von heute tauchen nur vereinzelt auf, dafür jede Menge Veteranen. Offenbar zählten für den Kurator und sein Team allein die Geste: Wir öffnen euch unser Haus.

Über dem Eingang des Fridericianum prangt die Giebelüberschrift : beingsafeisscary. Viele reiben sich die Augen - bis jemand zur (partiellen) Entschlüsselung beiträgt. Gemeint ist: Being Safe is Scary. Aber noch bleibt die Botschaft rätselhaft. Schließlich einigen sich die Kunstzeitschriften darauf, dass  damit ein Gruß an bedrohte Minderheiten gemeint ist. Na ja., klingt irgendwie nach Poesiealbum.

Ein Publikumsmagnet ist offenbar der Parthenon der verbotenen Bücher, ein stattlicher griechischer Tempel auf dem Friedrichsplatz, 70 mal 30 Meter im Grundriss. Die Kinder lieben ihn, da er auf erstem Blick wie eine Hüpfburg erscheint. Aber in seiner Plastkhaut sind eine große Anzahl Bücher eingeschweißt, die angeblich - irgend wann mal und irgendwo auf der Welt - verboten waren. Natürlich ist man nicht überrascht, dort die Satanischen Verse von Salman Ruschdi zu sehen, aber über die Schlümpfe und den Winnetou staunt man doch gehörig. Nicht vertreten ist Mein Kampf von Adolf Hitler, dessen Verbot jahrzehntelang in Deutschland diskutiert wurde. Etwas enttäuscht ist man, wenn man erfährt, dass der gleiche Parthenon schon 1983 in Buenos Aires von der Künstlerin Marta Minujin "uraufgeführt" wurde, anlässlich des Endes der argentinischen Militärherrschaft. Ein Beispiel für das erfolgreiche Recyceln von Kunstwerken!



Parthenon der verbotenen Bücher
mit einer Kunst-Prozession im Vordergrund



Kritik an der Documenta 14

Bei jeder Documenta gibt es vielfältige Kritik an der Ausstellung. Bei der D14 konzentrierten sich die Einwendungen auf die Wahl des Ortes, der Künstler und des Kuratoren-Teams.

1. Enttäuschendes Athen, überladenes Kassel:
Von Anfang an war die Wahl der griechischen Hauptstadt Athen als - gleichberechtigter (!) - Ausstellungsort umstritten. Man befürchtete einen Verlust der traditionellen Kasselaner Aura. Außerdem verlängerte sich dadurch das "Museum der 100 Tage" auf satte 163 Tage. Im Nachhinein gesehen waren diese Sorgen wohl unberechtigt. Viele Athener haben (angesichts ihrer viel wichtigeren wirtschaftlichen Sorgen) die D14 gar nicht erst wahrgenommen. Jedenfalls haben Szymczyk & Co die Publikumswirkung der Ausstellung in Griechenland anfangs viel höher eingeschätzt. ---
Kritisch wurde auch die Aufblähung der documenta in Kassel selbst gesehen. An nicht weniger als 35 Plätzen im Stadtgebiet waren Kunstwerke zu betrachten - wenn auch manchmal sehr versteckt. Um sich hier einen Überblick zu verschaffen, müsste man schon mindestens drei volle Tage in Kassel verweilen, was sicherlich den wenigsten Kunstfreunden möglich ist. Sehr bedauert haben viele Besucher, dass im wundervollen Park Karlsaue nur zwei Installationen zu sehen sind.

2. Die Künstler:
Auf der D14 sind die Werke von 160 Künstlern zu sehen. Ihnen wurde vom Kuratoren-Team auferlegt, mindestens je ein Werk für Athen und Kassel bereitzustellen. Nicht alle konnten dies selbst bewerkstelligen, denn bei Ausstellungsbeginn war schon fast die Hälfte der Künstler verstorben. Bedenkt man, dass die documenta den Anspruch erhebt, zeitgenössische Werke zu präsentieren, so ist der Anteil der bereits Verblichenen erstaunlich hoch.

Teilnehmende Künstler (Auswahl):
Akinbode Akinbiyi, Peter Friedl, Katalin Ladik, R.H. Quaytman, Zafos Xagorias

Verstorbene Künstler, deren Werke ausgestellt wurden (Auswahl):
Arseny Avraamov (1886-1944), Carl Friedrich Echtermeier (1840-1919), Krzysztof Niemczyk (1938-1994), Benjamin Patterson (1934-2016), August Spies (1855-1887)

3. Kuratoren und Kommunikation:
Der 1970 in Polen geborene Documenta-Leiter Adam Szymczyk hat leider nicht die Ausstrahlung und die Souveränität seiner Vorgängerin, der Amerikanerin Carolyn Christov-Bagargiev. Sozialisiert in der Warschauer Kunstszene leitete er einige Jahre die Kunsthalle in Basel. Adam S. liegt nicht das bestimmende Auftreten, er neigt mehr zur Rolle des Conférenciers, der Ideen einbringt und deren Vertiefung und Ausführung seinen Mitarbeitern überlässt. Das war sein Kuratoren-Team, erstaunliche 15 Personen an der Zahl, welche sich aber nie zu einer "kohärenten Mannschaft" zusammen finden konnten.
Trotzdem, die Idee der Doppel-documenta geht auf Szymczyks Kappe, ebenso wie der Ersatz der beim Publikum beliebten Führungen durch einen sterilen "Chor" und die Abschaffung der früher handlichen Kurzführer in Buchform, worin die Künstler und ihre Werke knapp und verständlich dargestellt wurden. Stattdessen wird ein "Daybook" angeboten, 700 Seiten stark und 35 Euro teuer, worin der Chef-Kurator Adam S. - in bestem Kunsthistoriker-Deutsch -  sein eigenes apokalyptisches Weltbild ausbreitet.

Arte Povera








Sonntag, 21. August 2016

Wagner Festspiele Bayreuth 2016: "Parsifal" zwischen Werkstatt und Werktreue

Diesmal war in Bayreuth, meiner oberfränkischen Heimat, vieles anders. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel kam (angeblich wegen der Terroranschläge in Würzburg und Ansbach) nicht zur Eröffnung der Wagner-Festspiele. Als Folge wurde kein roter Teppich ausgerollt, es kam kein Fernsehen und konsequenterweise blieben die Promis von Seehofer bis Gottschalk der Premiere zum "Parsifal" fern. Das bescherte manchem Musikstudenten eine (wohl verbilligte) Eintrittskarte, weil auch die Industriekapitäne, welche üblicherweise mit angemietetem Rolls-Royce den Hügel empor fahren, ganz plötzlich nach Dubai oder Schanghai mussten, um dort einen Großauftrag zu verhandeln.

Trotzdem: die Erwartung beim (kenntnisreichen) Premierenpublikum war die Gleiche wie eh und je. Man war gespannt auf die die Neuartigkeit der Inszenierung (im Sinne der Bayreuther "Werkstatt"), erwartete aber bei der Musik absolute Werktreue nach den Vorgaben des Komponisten. Für den echten Wagnerianer bestehen die 10 Opern von Richard Wagner - Tristan, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Meistersinger, Parsifal sowie Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung - die traditionsgemäß auf dem Festhügel gespielt werden, nur aus drei Dingen: den Regieanweisungen, dem Text und der Musik samt Gesang.

Dabei gelten verschiedene Regeln. Die Regieanweisungen, welche jedermann aus den gelben Reklamheftchen kennt (und welche viele Festspielbesucher immer mit sich tragen!), dürfen nicht nur, sondern müssen negiert werden. Der Regisseur und seine engsten Mitarbeiter, der Bühnenarchitekt und der Kostümbildner, haben da viel Gestaltungsfreiheit. Sie dürfen die Handlung von den mythologischen Zeiten bis in die Gegenwart verlegen, den Fliegenden Holländer mit Rollkoffer und den Lohengrin mit Laptop ausstatten - aber nur so weit, wie das kritische Bayreuther Publikum bereit ist mitzugehen. Das ist dort immer ein Wagnis. Wer traditionelles (und langweiliges) Theater will, muss die Aufführungen der Met in New York besuchen. Immerhin: Veränderungen am Text und an der Partitur sind jedoch in Bayreuth tabu! Von daher gesehen, laufen Sänger, Orchester und vor allem der Dirigent  geringere Gefahr, zum Schluss ausgebuht zu werden.



Das Festspielhaus auf dem Grünen Hügel

Die Inszenierung des Parsifal

Die "Story" für den Parsifal hat Richard Wagner über 30 Jahre hinweg beschäftigt. Die Handlung basiert auf dem Leben der historischen Gestalt des "Parzival", beschrieben in den mittelalterlichen Epen des Wolfram von Eschenbach. Demnach haben Engel dem Ritter Titurel den Speer überbracht, der Jesus Christus nach der Kreuzigung in die Seite gestoßen wurde, sowie die Schale - den Heiligen Gral - in der das Blut aufgefangen wurde. Titurel sammelte Gralsritter um sich in der spanischen Gralsburg Monsalvat, um diese Reliquien zu hüten. Nebenan war das Reich des Zauberers Klingsor und der geheimnisvollen Frau Kundry. Amfortas, der Sohn Titurels, wollte Klingsors Reich vernichten. Dieser entriss ihm jedoch den heiligen Speer und schlug ihm eine Wunde, welche sich nicht mehr schließen wollte. Hilfe konnte, gemäß einer Prophezeihung, nur von einem "reinen Tor", nämlich Parsifal, kommen, der den Speer zurückholen würde. Dies gelang auf vielen Umwegen und ist die eigentliche Geschichte der Oper.

Regisseur des 2016er Parsifal in Bayreuth war Uwe Eric Laufenberg, nachdem Katharina Wagner den Vorgänger Jonathan Meese kurzfristig gefeuert hatte, weil dieser Provokateur sich nicht enthalten konnte immer wieder mal den Hitlergruß zu zeigen und die Gralsritter als "Penner" auftreten lassen wollte. Laufenberg verortete die Ritter vom Heiligen Gral in den Nahen Osten, der Wiege des Christentums und dort in eine zerschossene Kirche. Klingsor, der sich einst wegen seiner starken Lüste selbst entmannte, präsentiert er als Sammler von Kruzifixen. Die berühmte Szene, in der Klingsor den Heiligen Speer auf Parsifal schleudert, wirkt enttäuschend und ulkig gleichermaßen. Während der Speer in Wagners Libretto in der Luft zum Stehen kommt, windet der junge Recke in Bayreuth dem alten Zauberer die Waffe aus der Hand und zerbricht den Speer. Klingsors Reich ist als Harem gestaltet, die verführerischen Blumenmädchen sind logischerweise Haremsdamen. Nach Jahren der Reifung kehrt Parsifal als moderner Kämpfer zurück mit Kalaschnikow und schusssicherer Weste. Amfortas darf nun sterben. In seinen Sarg wandern gleich alle Symbole der Christen, Juden, Muslime und Buddhisten mit. Parsifal wird der neue Chef der Gralsritter. Jesus Amfortas Superstar!

Laufenbergs Inszenierung fand nur den geteilten Beifall des Premierenpublikums. Vereinzelte Buhrufe waren unüberhörbar. Aber das ist Tradition in Bayreuth; die Regisseure haben es dort schwer. Nach Ablauf einiger Jahre wird deren Präsentation aber zumeist wohlwollend hingenommen, ja manchmal sogar überschwenglich gelobt. Eine Ausnahme bildet aber die Ring-Inszenierung von Frank Castorf. Der Transfer von den mythologischen Wäldern zu einem Bistro in Berlin-Alexanderplatz war zu krass. Erstmals bleiben in Bayreuth die Zuschauer fern. Kein Wunder, dass der Castorf-Ring 2017 abgesetzt werden soll.


Musik und Dirigent

Für die Inszenierung einer Oper ist der Regisseur zuständig, für die Musik der Dirigent. Beim Bayreuther Parsifal 2016 benötigte Laufenberg für die Etablierung der Regie zwei Jahre, beginnend mit der  Durchdringung des bei Wagner sehr verschraubten Libretto-Textes, der Konzeption und Realisierung der Bühnenbilder, den Stellproben der Sänger, bis hin zu den Kostümen und Masken. Für die Proben mit dem Festspielorchester und den Sängern standen diesmal nur zwei Wochen zur Verfügung - und es klappte. Woher diese Unterschiede? Nun, es war ein Sonderfall. Am 8. Juli, nachdem man schon vier Wochen intensiv mit dem Orchester geprobt hatte, kam es offensichtlich zum Krach zwischen  zwei "Alpha-Tieren" , dem Dirigenten Andris Nelsons und dem Künstlerischen Leiter Christian Thielemann. Der Lette Andris fühlte sich zu sehr gegängelt, schmiss hin und entschwand. Ein neuer Dirigent wurde benötigt, und zwar schnell. Katharina brachte die Telefondrähte zum Glühen, aber weder Daniel Barenboim noch Sir Simon Rattle wollten einspringen. So verfiel man auf den 73-jährigen Hartmut Haenchen, einen formidablen Dirigenten, gewiss, aber in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Zudem hatte er keinerlei Bayreuth-Erfahrung. Am 11. Juli traf er auf dem Grünen Hügel ein; zwei Wochen darauf, am 25. Juli sollte die Premiere des Parsifal stattfinden.

Maestro Haenchen durfte deshalb keine weitere Zeit verlieren, weswegen er von früh bis Mitternacht probte. Insgesamt absolvierte er in dieser relativ kurzen Zeit zwei Orchesterproben, zwei Bühnenproben mit Orchester für den ersten Aufzug, je eine für den zweiten und dritten Aufzug, eine Korrekturprobe sowie Hauptprobe und Generalprobe. Hinzu kamen weitere Proben mit dem Chor sowie den Solisten, letzteres auch noch nach der Generalprobe. Dabei blieb Haenchen werktreu - buchstäblich bis zum letzten Halbton. Dafür ein Beispiel: im dritten Aufzug, Takt 1068, spielte ein Teil des Orchesters ein C, der andere ein Cis. Als man sich nicht einigen konnte, ging der Dirigent ins Wagner-Archiv, studierte dort die Uraufführungspartitur und stellte fest, dass man in Bayreuth an dieser Stelle ein Cis intonieren sollte. Der Streit war geschlichtet. Ob es viele im Publikum gehört hätten, mag bezweifelt werden. Als Orchesterleiter hat man allerdings im Graben des Festspielhauses auch den schlechtesten Platz; man kann oft nur ahnen, wie die Musik im Saal ankommt. Gewisse Freiheiten nehmen sich die Dirigenten nur bei den Tempi. So hat Haenchen den Parsifal wesentlich schneller dirigiert als sein Vorgänger Arturo Toscanini. Zum Schluss erhielt der Maestro - im Gegensatz zu seinem Regiekollegen Uwe Laufenberg - vom Premierenpublikum und den allermeisten Kritikern rauschenden Beifall. Im Sinne von Parsifal war er zum "Erlöser" geworden.


Der Jahrhundert-Ring

Das kurzfristige Auswechseln von künstlerischem Führungspersonal hat in Bayreuth schon Tradition. In besonderer Erinnerung bleibt der sogenannte Jahrhundert-Ring. Im Jahr 1976, zum hundertjährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele, wollte der damalige Intendant und Wagnerenkel Wolfgang Wagner den  Ring der Nibelungen aufführen lassen. Als Regisseur hatte er Peter Stein, damals Leiter der Berliner Schaubühne, ausersehen. Stein, politisch weit links stehend, stellte seine Forderungen: die Bayreuther Bühne und der Zuschauerraum sollten nach seinen Vorstellungen umgebaut werden - außerdem wollte Stein keinesfalls den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Joseph Strauß beim Premierenempfang treffen. Der fränkisch-konservative Wolfgang Wagner lehnte ab und verpflichtete stattdessen den noch weitgehend unbekannten Patrice Chéreau mit Pierre Boulez als Dirigent.

Dem jungen Schauspielregisseur gelang ein Meisterstück. Er stützte sich in der Konzeption auf den Briten George Bernard Shaw und seine hellsichtige Analyse des Rings The Perfect Wagnerite - A Commentary of the Niblung Ring, welche bereits 1889 in London erschienen war. Darin deutet Shaw den Ring als Parabel auf die sozio-ökonomischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts und interpretiert ihn als Drama der frühindustriellen Gegenwart. Chéraeu und sein Bühnenbildner Richard Peduzzi folgten diesem Grundsatz und kreierten einprägsame Bilder von einem Stauwehr am Rhein zu Beginn des Rheingolds.

Trotzdem: die Premiere schockierte große Teile des Publikums und führte zu gewaltigen Protestaktionen auf dem Grünen Hügel. Es kam zur Verteilung von Flugblättern gegen diese Inszenierung, ja sogar zu Schlägereien. Chéraeau erschien weiten Teilen des Publikums als "linker Revoluzzer". Aber bald legte sich die Aufregung und die Einsicht in die hohe szenische und darstellerische Intensität gewann die Oberhand. Bei der letzten Aufführung, 1980, gab es nur noch frenetischen Jubel. Mit einem Applaus von neunzig Minuten Länge und der eindrucksvollen Zahl von 101 Vorhängen (beides Rekorde in Bayreuth) wurde die Inszenierung verabschiedet.

Sonntag, 13. März 2016

Die Kunstmuseen zwischen Glamour und Armut

Die Bildende Kunst gibt es schon seit mehr als 20.000 Jahren - man denke nur an die Höhlenmalereien der Steinzeit. Die Kunstmuseen in Deutschland sind jedoch allerjüngsten Datums: die Alte Pinakothek in München konnte in diesem Jahr erst ihren 180. Geburtstag feiern, die Berliner Nationalgalerie den 155. und das Kölner Wallraf-Richartz-Museum das 30-jährige Jubiläum. Natürlich gab es auch schon vorher bedeutsame Ölgemälde, aber diese waren in der Regel nur in den Kirchen oder versteckt in den Schlössern der Adeligen und für den Normalbürger öffentlich kaum zugänglich. Mittlerweile ist in Deutschland die Zahl der Museen und Kunstausstellungen auf über 4.000 angestiegen. Anfangs gab es weltweit nur eine einzige Biennale - die von Venedig - , während der vergangenen 25 Jahre sind weitere 105 dazu gekommen. Die modernen Museen haben das Fach Kunstgeschichte erst ins Leben gerufen; ohne Museen gäbe es keine Kunsthistoriker.

Parallel zu der wachsenden Zahl öffentlicher Museen gibt es noch die Privatmuseen, welche insbesondere in Baden-Württemberg wie Pilze aus der Erde schießen. Man denke nur an die Museen des Schraubenfabrikanten Reinhold Würth in Künzelsau und anderswo und das des Zeitungshändlers Frieder Burda in Baden-Baden. Beide verweisen gerne darauf, dass sie sämtliche Kosten ihrer Einrichtungen selbst tragen. Der guten Ordnung halber sollte man jedoch anmerken, dass die deutschen Finanzgesetze es zulassen diese Kosten gewinnmindernd von der Steuer abzusetzen, womit sich auch der Altruismus dieser Fabrikanten in Grenzen hält.


Das Guggenheim Museum in New York

Große Museen, in moderner Bauweise, entstanden nach dem 2. Weltkrieg in reicher Zahl. Sie sind gewissermaßen die Kathedralen der Neuzeit. Den Anfang machte 1959 das Guggenheim Museum in New York. Dieses Gebäude des Architekten Frank Lloyd Wright hat die Grundform einer Rotunde. Entlang einer sich windenden Rampe mit einer Steigung von drei Prozent sind die Kunstwerke ausgestellt. In der Folge entstanden in vielen Metropolen spektakuläre Museumsbauten, unter anderem durch die Architekten Renzo Piano und Daniel Libeskind. Die zeitgenössischen Künstler waren begeistert von diesem neuartigen Ambiente ihrer Werke. Bezeichnend dafür ist der Ausspruch von Pablo Picasso: "Gebt mir ein Museum, ich werde es füllen".

In permanenter Geldnot

Auf den ersten Blick erscheint es wie eine Erfolgsgeschichte: die deutschen Museen (insgesamt!) haben jährlich konstant über hundert Millionen Besucher. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch immer wieder fest, dass - insbesondere bei den Kunstmuseen - die meisten Besucher nur zur Eröffnung der Ausstellungen kommen. Bei der Vernissage, bei Wein und Schnittchen, lässt sich eben angenehm mit den zumeist anwesenden Größen der Stadt parlieren. Danach ist jedoch in Bezug auf Besucher meist tote Hose. Was bleibt zu tun: Wechselausstellungen für die Happy Few. Aber das geht ins Geld und wird nur in seltenen Fällen über die Eintrittsgebühren wieder hereingeholt. Garanten für andauernd hohe Besucherzahlen sind nur die "Popstars", wie Gerhard Richter und Damien Hirst, wobei letzterer inzwischen in London sein eigenes Museum bauen ließ. 

Viel zu leicht lassen sich die Stadtoberen zu Museumsprojekten verführen. Der gefeierte Neubau des Essener Folkwang-Museums kostete 55 Millionen Euro, bezahlt wurde er komplett von der Krupp-Stiftung als privatem Schenker. Nun muss die (wegen RWE) inzwischen arme Stadt  Essen für die exorbitant gestiegenen Unterhalts- und Betriebskosten aufkommen. Die klassische museale Trias Sammeln, Bewahren, Erforschen wird nunmehr ersetzt durch Wasser, Strom, Heizung. Selbst für die Sicherheit fehlt häufig das Geld, weshalb es nicht selten zu spektakulären Gemäldediebstählen kommt. So gesehen wird immer stärker für eine Selbstverpflichtung der Kommunen plädiert: Museumsneubauten sollten nur noch zugelassen werden, wenn vorher alle Folgekosten finanziell geregelt sind.

Über die Eintrittspreise der Besucher generieren die Museen im Schnitt 10 bis 20 Prozent ihrer Einnahmen. Das ist nicht sehr viel, sodass die Museumsmanager immer wieder den Gedanken erwägen, den Eintritt in ihre Häuser kostenfrei zu machen. Am ZKM in Karlsruhe gibt es einen eintrittsfreien Freitagnachmittag, das Folkwang Museum in Essen darf man neuerdings sogar jeden Tag kostenfrei besuchen. Den Einnahmeausfall erstattet die Krupp-Stiftung für zunächst fünf Jahre. Die Besucherfrequenz in Essen hat sich durch diesen Verzicht rapide erhöht: von 1.500 auf 7.500 Personen im Monat. Über die Cafeteria, die Shops sowie durch die Vermietung attraktiver Konferenzräume gelingt es manchen Häusern nicht selten, die Einnahmeausfälle zu kompensieren. Außer dem schafft man es, junge Menschen für das Museum zu interessieren und generell ist damit ein Imagegewinn verbunden.

Magere Ankaufetats

Die reiche deutsche Museumslandschaft war seit langem das Resultat einer glücklichen Verbindung zwischen öffentlichen und privaten Engagements. Beim Ankauf neuer Kunstwerke hält sich die öffentliche Hand seit einiger Zeit allerdings sehr zurück. So verfügte die Berliner Nationalgalerie mit ihren sechs Häusern im Jahr 2011 über gerade mal 65.000 Euro - das sind 1,2 Prozent der betrieblichen Sachkosten. Der Alten und Neuen Pinakothek in München standen 49.050 Euro staatliche Gelder zur Verfügung. Die Städtischen Museen in Freiburg - fünf an der Zahl - müssen sich einen Ankaufsetat von gerade mal 10.000 Euro im Jahr teilen. Bemerkbar macht sich diese Geldklemme auch bei Sonderausstellungen, weil die Versicherungssummen für entliehene Werke anderer Museen immer mehr ansteigen.

Zum Glück gibt es noch die privaten Donatoren, denn viele Kunstwerke gelangen an die Museen - wie die Amerikaner sagen - über Death, Debts and Divorce. Aber nichts ist umsonst, denn große Privatsammler verlangen von den Museen häufig einen eigenen Anbau oder Flügel, wo ihre Sammelleidenschaft eins zu eins für die Ewigkeit weitergeführt werden soll. Beispielhaft dafür ist die Sammlung von Udo und Anette Brandhorst in München, wo der Freistaat Bayern - für 120 Millionen Stiftungsvermögen - einen spektakulären Neubau für 48 Millionen Euro spendieren musste. Alternativ bauen manche Privatsammler gleich ihre eigenen Museen, als wollten sie sagen: Ich zeige euch, wie es geht, ich kann es sowieso besser.

Ein hohes Risiko beim Ankauf neuer Kunstwerke ist die Provenienz (Herkunft), welche oft nicht ausreichend dokumentiert und nachweisbar ist. Das Freiburger Museum für Neue Kunst bekam das vor einigen Jahren zu spüren: die in New York lebende Erbin eines jüdischen Kunstsammlers aus Dresden, der von den Nationalsozialisten verfolgt und zum Verkauf seiner Sammlung gezwungen wurde, beanspruchte ein wertvolles Gemälde von Otto Dix für sich. Am Ende stimmte die Stadt Freiburg zu und kaufte mit Hilfe mehrerer Stiftungen des Bundes dieses wichtige Werk der Kunstgeschichte für knapp eine Million Euro zurück. Inzwischen lassen die Freiburger Museen mit Hilfe eigens engagierter Provenienzforscher ihre Bestände überprüfen. Besonders bei Werken der Klassischen Moderne ist die Provenienz häufig lückenhaft und damit risikobehaftet.

Schlussendlich: 
Fast alle Museen in Deutschland und anderswo haben Finanzprobleme. Ausgenommen sind nur das gute Dutzend internationaler Großmuseen mit einer spektakulären Architektur, bei dem der Bau sich nahezu selbst genügt. Die Exponate sind hier eigentlich nur noch Zugabe.

Und ein Museum in Köln, das jährlich von 650.000 Besuchern frequentiert wird, damit das beliebteste Museum der Domstadt ist und keinerlei staatliche Unterstützung benötigt:
das Schokolademuseum der Firma Stollwerck AG.

Donnerstag, 21. Januar 2016

Hommage an Motörhead und Frontmann Lemmy

Die Welt der Musikfreunde musste über den Jahreswechsel den Tod von zwei außergewöhnlichen Künstlern beklagen: David Bowie starb 69-jährig, und nur ein Jahr älter wurde "Lemmy" Kilmister, der Gründer, Frontmann und Leadsänger der Musikgruppe Motörhead. Während Bowie keinen persönlichen Musikstil pflegte, sondern als Genie und "musikalisches Chamäleon" galt, ist Lemmy mit seiner Band wohl eher dem harten Rock zuzuordnen. Er wurde 1945 in England geboren und starb am 26. Dezember 2015, als 70-Jähriger, in Los Angeles, wo er auch beerdigt ist. (Bowie´s Urnenplatz wird, seinem Wunsch gemäß, geheim gehalten.)

Lemmy hatte keine Musikausbildung genossen, sondern hielt sich in den siebziger Jahren in London mit allerlei Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als "Roadie" bei Jimi Hendrix. Nachdem er als Bassist bei der Gruppe Hawkwind scheiterte, gründete er seine eigene Band und gab ihr den Namen Motörhead. Bald kannte man ihn als den Mann in Schwarz mit den hohen Cowboystiefeln, dem Eisernen Kreuz oder Indianerkunstwerk um den Hals und dem unverwechselbaren Westernbackenschnauzer. Seine Konzerte begann er immer mit der Ansage: "We are Motörhead, we Play Rock ´n´Roll".



Foto von Lemmy

Als Bassist pflegte Lemmy einen ungewöhnlichen Stil. Er spielte zwar Bassgitarre, behielt aber die Technik der Rhythmusgitarren bei. Seinen typischen Bassklang erreichte er, indem er auf seiner Gitarre sämtliche Regler auf die höchste Stufe stellte. Die Musik seines Trios vereinte die Einflüsse von Punk, Hard Rock, Rock ´n´Roll sowie Blues Rock. Vor allem galt er als Vorläufer und Begründer der Heavy Metal Musik. Wie zum Beweis haben hunderttausende von Menschen eine Internet-Petition eingereicht, wonach ein kürzlich entdecktes superschweres Metallatom im Transuranbereich nach ihm als "Lemmium" benannt werden soll. Mal sehen, ob die weltweiten Chemieinstitutionen da mit spielen; es wäre ein einmaliger Vorgang im wissenschaftlichen Bereich.

Die Musik der Motörhead gilt für viele als eine Fortschreibung der Musik von Richard Wagner. Im ersten Akt seiner Nibelungenoper "Siegfried" sind die gleichen harten Schlagrhythmen erkennbar, wie beispielsweise in den Ace of Spades, ein Album, das 1980 kreiert wurde und- z. B. für AC/DC -  wegweisend für den Heavy Metal Sound geworden ist. Das anliegende Youtube Video soll dies veranschaulichen. Weitere Alben von der Gruppe Motörhead wird es nicht mehr geben. Schon einen Tag nach dem Tod von Lemmy Kilmister erklärte Mikkey Dee das Ende dieser Band.

Montag, 6. April 2015

Kunst rezykliert man nicht

Vor kurzem fand wiederum die Karlsruher Kunstmesse, die "art Karlsruhe 2015", statt. Mehr als 50.000 Besucher pilgerten während der fünf Tage zu den weitläufigen Hallen in Rheinstetten, wo 210 Galerien aus elf Ländern ihre Kunstprodukte feilhielten. Auch im zwölften Jahr ihres Bestehens erweist sich diese Kunstausstellung immer noch als Besuchermagnet. Dank Ewald Karl Schrade, dem künstlerischen Leiter der art und ihrem Initiator, ist der Stadt Karlsruhe ein kulturelles Großereignis gleichsam in den Schoß gefallen, das manche mühsam gepäppelte Veranstaltung in den Schatten stellt.

Auch Ihre Hoheit, der Prinz Bernhard von Baden, weilte unter den erlauchten Besuchern. Er kündigte sogar ein Geschenk zum diesjährigen 300. Geburtstag der Stadt Karlsruhe an. Im Sommer will Durchlaucht im Schlossgarten ein Bronzeskulptur enthüllen lassen. Sicherlich wird es kein Reiterstandbild des Stadtgründers Karl-Wilhelm, weiland Markgraf von Baden-Durlach, sein. Dafür wird schon der damit beauftragte Künstler Stefan Strumbel sorgen. Er ist bekennender Liebhaber des Schwarzwaldes und offeriert in seiner Galerie bei der art 15 die berühmte Kirschtorte. Allerdings ist dort diese Süßware, statt mit einer Kirsche, mit einem giftgrünen Totenkopf garniert. Passend dazu serviert der Offenbacher Künstler eine Blutwurst mit Schlagring. Die Karlsruher dürfen sich also auf das angedrohte Geschenk des Prinzen freuen.



Bild: Logo der art Karlsruhe 2015

Die Ministerin zieht vom Leder

Die Eröffnungsrede zur art Karlsruhe 15 hielt diesmal die Staatsministerin Monika Grütters, in der Berliner Bundesregierung zuständig für das Ressort Kultur. Nach einigen philosophischen Einleitungssätzen zum Unterschied von Wert und Preis eines Kunstwerks, leitete sie schnell zu den Kunstverkäufen im Land Nordrhein-Westfalen über. Dort sei "ein Dammbruch" eingeleitet worden, indem man "zwei Warhols verscherbelt" habe. Der NRW- Finanzminister Norbert Walter-Borjans, habe ungeniert die beiden Warhol-Bilder "Triple Elvis" und "Four Marlons"  bei Christie´s in New York für zusammen 151,5 Millionen Dollar versteigern lassen - nur um die Schulden des landeseigenen Casinobetreibers Westspiel decken zu können.

Aber das ist erst der Anfang. Die WestLB-Nachfolgerin Portigon will, mit dem Segen des NRW-Ministers, nun auch ihre hochkarätige Kunstsammlung, die einst von der Landesbank angekauft wurde, zur Tilgung der 25 Milliarden Euro Schulden meistbietend auf den Markt bringen. Diese Sammlung besteht aus 400  altmeisterlichen und modernen Werken. Für den Portigon-Chef gibt es aufgrund der prekären Finanzlage keine Alternative zum Verkauf; die nordrhein-westfälischen Museumsleiter kritisieren das als "Durchlauferhitzer für den Kunstmarkt". Der Finanzminister deckt die Verkäufe in hemdsärmeliger Weise, indem er sagt: "Ein Kunstwerk hat einen Wert, wenn es zu veräussern ist". Basta.

Die weltbekannten Auktionshäuser Sotheby und Christie´s würden jubeln, wenn sich mehr Museen in Deutschland dazu entschließen könnten, einen Teil ihrer Bestände dem Kunstmarkt zu überlassen. Aber dies widerspräche einer ehernen Regel: ein Museum im Besitze des Staates verkauft nichts; seine Kunstwerke werden nicht rezykliert. Museen im Privatbesitz sind von dieser Auflage natürlich entbunden; sie können nach eigenem Gusto kaufen und verkaufen und damit ihre Sammlungen immer wieder thematisch neu arrondieren.

Kunst auf Lager

Während die Besucher durch große Sonderschauen und repräsentative Ausstellungssäle der Museen strömen, lagern zwischen 40 und 90 Prozent der Bestände öffentlicher Sammlungen verborgen in Keller und Depots. Und nicht immer sind die Lagerbedingungen dort ideal; bedeutende Kunstwerke sind gar, wegen ihres fragilen Erhaltungszustands gar nicht mehr ausstellbar. Häufig fehlt es an Personal, Zeit und Geld, die umfangreichen Sammlungsbestände zu erforschen und wertvolle Objekte für eine Präsentation zu restaurieren. Ganz schlimm ist der Zustand bei vielen Sammlungen im Bereich der Musikinstrumente und der Videokunst, wo Fachleute und Abspielgeräte dringend gesucht werden. Auch die Papyrussammlungen, beispielweise an der Universität Heidelberg, sollten intensiver betreut werden.




Bild 2: Gestapelte Kunst (Foto: Silke Lachmund)


Mittlerweile hat sich die "VolkswagenStiftung" der Depotprobleme angenommen und unterstützt die Museen dabei finanziell. Zum Beispiel die Staatsgalerie in Stuttgart, wo bislang wesentliche Werke des Konzeptkünstlers Marcel Duchamp (1887 - 1968) der Aufarbeitung harren. Die seit Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich erweiterte grafische Sammlung zählt mit 300 Werken zu den größten im deutschsprachigen Bereich und wurde 1993 durch den Erwerb des Serge-Stauffer-Archivs um nochmals 500 Werke erweitert. Die Erforschung des Bestands, eine anschließende Ausstellung und begleitende wissenschaftliche Publikationen sollen das Vorhaben von VW abrunden.

Inzwischen gibt es sogar mit ART KNOX ein privatwirtschaftliches Unternehmen, welches sich mit der Lagerung von Kunst befasst. Es wirbt als Europas erstes Kunstlager mit einer Stickstofflöschanlage, mit EDV-gestützten Brandmeldern, mit zertifiziertem Versicherungsschutz und vielem anderen mehr.

Wie sagte doch Monika Grütters bei ihrem Besuch in Karlsruhe:
"Mir ist die Unterscheidung zwischen dem Wert eines Kunstwerks und seinem Preis ganz wichtig.
Denn: Ein Maler ist ein Mann der malt, was er verkauft. Ein Künstler hingegen ist ein Mann, der verkauft, was er malt".
Womit sie nur Pablo Picasso zitiert hat.

Freitag, 27. Februar 2015

Händelopern, Kastraten und Countertenöre

Immer wenn der Winter bricht, so um die Mitte des Monats Februar, arrangiert das Badische Staatstheater in Karlsruhe seine dreiwöchigen Händelfestspiele. Und das seit nunmehr 30 Jahren. Da der Sachse - und spätere Londoner - Georg Friedrich Händel nicht nur 25 Oratorien, darunter den "Messias" mit dem hinreißenden "Halleluja" geschrieben hat, sondern auch 42 Opern im barocken Stil, kann diese Festspielsession noch eine Weile andauern.

Besonders entzückt sind die Karlsruher Damen von den immer reichhaltig auftretenden Countertenören, die mit einer speziellen Kopfstimmentechnik ihre Partien in der Alt-oder sogar in der Sopranlage singen. Dieses Jahr sind gleich fünf dieser weltbekannten Künstler angereist, welche die Hauptrollen in den beiden Opern "Teseo" und Riccardo Primo" singen.

Die regionale Zeitung BNN schwärmt besonders von dem Countertenor Valer Sabadus, der in der Oper Teseo, nur zum zarten Hauch eines Cembalos, die Arie Quanto che a me sian care wunderbar gesungen hat. "Ein androgyner Gesang von großer erotischer Wirkung", bekennt die Rezensentin jener Zeitung, " der in süßen weiblichen Höhen nuancenreich durchfühlte Melodien in Töne gießt".

Wer will da noch mehr?

Der Gesang der Kastraten

Wie überirdisch müssen die Barockopern erst geklungen haben, wenn sie von wirklichen Kastraten gesungen wurden? Viele Arien hat Händel (und auch Gluck) speziell für diese Sangeskünstler geschrieben. Dabei bezeichnet man Kastraten als solche Sänger, die vor ihrer Pubertät der Kastration unterzogen wurden, um den Stimmwechsel zu verhindern und um damit die Knabenstimme (Alt oder Sopran) auch im Mannesalter zu erhalten. Der junge Mensch erreichte später zwar die Länge eines Erwachsenen, behielt aber seine hohe Stimme bei und konnte mit ihr so kräftig singen wie ein nicht kastrierter Mann.

In Bologna und Neapel gab es im 17. Jahrhundert viele Mediziner (sprich Bader bzw. Tierkastrierer), die Knaben vor der Pubertät die Hoden "wegoperierten" - manchmal auch das Glied - und sie damit entmannten. Wegen der dann fehlenden Hormone blieb der Kehlkopf und die Stimmbandritze im Wachstum zurück und verhärtete sich nicht. Die Stimmlage eines Kastraten ist in etwa gleichzusetzen mit der einer Frau. Der Stimmumfang schwankt zwischen zwei und drei Oktaven im Tongebiet vom d bis zum dreigestrichenen f. Weil das Hormon Testosteron fehlte, entwickelte sich der Brustkorb der Kastraten übermäßig groß, was ihrer Stimme enorme Ausdauer und Atemlänge verlieh. Kaum verwunderlich ist, dass wegen der primitiven Hygienesituation im Mittelalter, viele der unglücklichen Knaben noch während der Operation an Blutverlust starben oder später als bedauerliche Krüppel dahinvegetierten.



Abb.: Tonhöhen der verschiedenen Stimmlagen
(zum Vergrössern anklicken)

Viele Kastraten waren im Umfeld der katholischen Kirche tätig, denn dort galt noch immer das Verbot aus der Bibel: "Mater taceat in Ecclesia" ( Die Frau schweige in der Kirche). Die sixtinische Kapelle, als Hauskapelle der Päpste, hatte einen besonders hohen Bedarf an guten Sängern, sodass sie sogar eine Art Vorschule gründete, die Capella Giulia. Papst Clemens VIII gab dazu seinen Segen indem er ein Breve erließ und die Kastration zur Ehre Gottes legitimierte. Der letzte Kastrat der Sixtina war Alessandro Moreschi, der bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1913 dort gesungen hat und von dem es sogar einige frühe Schallplattenaufnahmen gibt.

Im europäischen Musikleben des Barock genossen die Kastraten hohes Ansehen. Sänger wie Senesino oder Farinelli (über den es sogar einen Film gibt) waren die Popstars ihrer Epoche. Die Nummer 1 auf der Bühne war damals nicht die Primadonna, sondern der "primo uomo", dessen Stimme den Italienern der Inbegriff ewiger göttlicher Jugend war. Die vorwiegend adelige und reiche Gesellschaft überschüttete die Kastraten mit Geld und Edelsteinen und erging sich in Rufe wie Eviva el coltello (Es lebe das Messerchen). Kein Wunder, dass sich zu dieser Zeit in Italien jährlich mehr als 4.000 junge Menschen kastrieren ließen - in Erwartung solchen Ruhms. Leider wurden die allermeisten nur verstümmelt, ohne, dass sie an Sangeskunst hinzugewannen.

Die modernen Countertenöre

Die Nachfahren der ehemaligen Kastratensänger sind in der Neuzeit die Countertenöre. Bei ihnen ist - so viel sei den weiblichen Fans zugesichert - medizinisch und körperlich "noch alles dran". Countertenöre (von italienisch Controtenore) sind Sänger, die mit Hilfe einer durch Brustresonanz verstärkten Kopfstimme bzw. durch Falsett-Technik in der Alt- oder Sopranlage singen. Der Countertenor ist aber nicht mit einer Kastratenstimme gleichzusetzen, weder im Klang noch im Stimmumfang kommt er ihr gleich.

Als "natürlich" gilt die Modallage der menschlichen Stimme, nämlich die Bruststimme. Bei Countertenören wird demgegenüber zwischen Falsett- und Kopfstimme unterschieden. Falsett bedeutet einen künstlichen Gesang in hohen Lagen ("Fistelstimme"). Er wird von Männern ausgeführt, die zudem noch ihre natürliche Bass- oder Tenorstimme besitzen. Der Kastrat hingegen hat nur eine hohe Gesangslage. Die Falsettstimme hat ihre Bezeichnung aus dem Italienischen falso=falsch. Der Begriff falsetto ist eine Verkleinerungsform und bedeutet so viel wie "kleine, falsche Stimme". Mit ihr ist kein Vibrato oder Crescendo möglich. Trotzdem ist diese Stimme natürlich in dem Sinne, dass sie (fast) von jedem Menschen praktiziert werden kann.

 Die trainierte Kopfstimme klingt hingegen wesentlich natürlicher, ist aber in dem Sinne "künstlich", als sie das Ergebnis von langer Übung ist. Sie ist nicht Teil der natürlichen Stimmfähigkeit, also nicht für jeden Sänger verfügbar. Etwa so, wie ein Mensch von Natur aus nicht rechnen kann, aber im allgemeinen die Fähigkeit besitzt, es zu lernen.

Ein Nachteil der Countertenöre ist, dass sie häufig recht "kleine" Stimmen haben und ihre Stimmführung nicht immer "schön" ist. Jedenfalls kein Vergleich mit einem Mezzo-Sopran oder einer Altistin, die hinsichtlich Fülle der Stimme und Technik den meisten Countertenören überlegen sind. Man denke nur an die unvergleichliche Cecilia Bartoli.

Vielleicht sollte man auch in Händelopern nicht immer nur Countertenöre einsetzen, sondern gelegentlich mal Frauen in Hosenrollen besetzen. Wie es bei der "Fledermaus" der Fall ist, wo der Prinz Orlowsky im 2. Akt fast immer von einer Sängerin dargestellt wird: Ich lade gern mir Gäste ein...






Sonntag, 2. Februar 2014

Eine Oper für die Atombombe (1)

Am Badischen Staatstheater in Karlsruhe wir derzeit eine Oper unter dem leicht gruseligen Titel "Doctor Atomic" aufgeführt. Sie ist unbedingt sehenswert, auch wenn sie ein Sujet zum Inhalt hat, das man normalerweise nicht in der Welt des Gesangs vermutet. In zwei Akten zu je drei Szenen und über drei Stunden hinweg wird die Geschichte des Tests der ersten Atombombe in der Wüste von New Mexico dargestellt. Die sängerischen Leistungen und insbesondere die Musik verdienen höchstes Lob. Die Oper wurde von dem Amerikaner John Adams im modernen Musikstil komponiert und ist erstmals vor knapp zehn Jahren in San Francisco aufgeführt worden. Interessenten sei gesagt, dass (bis zum Mai) nur noch sieben Aufführungen eingeplant sind.

Die spannende Vorgeschichte

Die Oper hält sich eng an die historischen Begebenheiten, wie sie vor gut 70 Jahren abgelaufen sind. Im Jahr 1942 beschloss der damalige amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt eine Atombombe bauen zu lassen. Sie war gedacht zum Abwurf über Nazi-Deutschland, aber (glücklicherweise) wurde diese Superbombe erst im Juni 1945 fertig - also einen Monat nach der deutschen Kapitulation. Genauer gesagt, es gab davon erst zwei Prototypen: eine Uranbombe und eine Plutoniumbombe. Letzterer trauten die Wissenschaftler nicht ganz, sodass sie vor dem Abwurf einen Test mit einer "Probebombe" für erforderlich hielten. Dieser "Trinity-Test" (das war der Codename) sollte in der Wüste des US-Staates New Mexico, in einer menschenleeren Gegend, stattfinden.

Die Arbeiten dafür standen unter einem enormen Zeitdruck, denn am 17. Juli 1945 war der Beginn der sogenannten Potsdamer Konferenz geplant, wo Harry S. Truman ( Roosevelt war kurz vorher verstorben) mit Winston Churchill und Josef Stalin die Neuordnung Europas und den noch andauernden Krieg gegen Japan besprechen wollten. Den Wissenschaftlern in Amerika war bedeutet worden, dass Truman das Testergebnis unbedingt vor Konferenzbeginn brauche. Und es sollte natürlich "positiv" sein.

Unter grösster Anstrengung gelang es dem wissenschaftlichen Projektleiter J. Robert Oppenheimer und seinem militärischen Counterpart General Leslie Groves die Probebombe auf ein Stahlgerüst in zehn Kilometer Entfernung von den Beobachtungsbunkern plazieren zu lassen. Die Zündung war für 4 Uhr nachts des 16. Juli 1945 angesetzt, also gerade noch rechtzeitig vor Trumans Terminforderung. Dann aber passierte etwas, das man in dieser Wüstengegend selten erlebt: um 2 Uhr nachts setzte ein gewaltiger Gewitterregen ein, der auch zwei Stunden später noch nicht aufhörte. An eine Zündung der Bombe war angesichts der durchnässten elektrischen Zuführungsleitungen nicht zu denken.

Im Gegenteil: während dieser quälend langen Wartezeit kam es bei den versammelten Wissenschaftlern zu wilden Diskussionen, bei denen auch "defätistische" Gedanken geäussert wurden. Die Gruppe der jüngeren (um Wilson) schlug vor, die Versuche aufzuschieben und der japanischen Regierung vor dem Bombenabwurf ein Ultimatum zu stellen. Natürlich hatten sie keine Information darüber, dass die Generäle und Politiker im fernen Washington längst die Städte Hiroshima und Nagasaki als Bombenziele festgelegt hatten. Eine andere Gruppe (um Teller) brachte die höchst verstörende Vermutung auf, dass bei der Detonation der Atombombe möglicherweise die Erdatmosphäre in Brand geraten könne, mit der Folge der Auslöschung der gesamten Menschheit. Die dritte Gruppe (zu der zeitweise auch Oppenheimer gehörte), plagte der Gedanke, dass die Bombe von zu niedriger Sprengkraft sein könnte. So wurden Wetten darüber abgeschlossen, mit wieviel Tonnen des Normalsprengstoffs TNT diese Atombombe wohl vergleichbar sein würde.  Die Werte lagen zwischen 45.000 Tonnen TNT (Teller) und Null Tonnen (Ramsey). Oppenheimer tippte auf 300 Tonnen, hoffte aber inständig auf weitaus höhere Werte.

Um 4 Uhr regnete es immer noch "cats and dogs" und General Groves geriet in ein heftiges Wortgefecht mit dem Chefmeteorologen Frank Hubbard. Schliesslich prophezeite dieser für 5 Uhr 30 eine geringe Aufhellung und Oppenheimer schob den Zeitpunkt der Zündung entsprechend auf. Die Nerven waren zum Zerreissen gespannt, als um 5 Uhr 29 Minuten 45 Sekunden der Zündstromkreis geschlossen wurde: der Stosspannungsgenerator entlud sich, an 32 Zündpunkten wurden gleichzeitig die Zündkapseln getriggert und die anschliessende Implosionswelle drückte das Plutonium im Innern zur Grösse einer kleine Apfelsine zusammen. Im Millionenbruchteil einer Sekunde entwickelte sich die nukleare Energie  mit einer Temperatur von über zehn Millionen und einem Druck von Millionen Atmosphären. Zum ersten Mal zeigte sich der Atompilz am Nachthimmel. Ein neues Zeitalter war angebrochen, die Büchse der Pandora hatte sich geöffnet.

Die Theateraufführung in Karlsruhe

Das Libretto für die Oper stammt von dem vielseitigen Peter Sellars, der für seine Inszenierungen von Mozartopern im zeitgenössischen amerikanischen Setting bekannt ist. Bei Doctor Atomic stammt der Text zur Hälfte aus Originalquellen der beteiligen Personen, zur anderen Hälfte ist es Dichtung, die der Komposition poetische Vorlagen für tiefe Empfindungen liefert. Die Diskussionen der Wissenschaftler sind ebenso wie die der Chöre aus unzähligen Zitaten zusammengesetzt, wobei die Quellen lange Zeit den Stempel "streng geheim" trugen. So gelang Sellar eine lebendige Fiktion, wie es in Wirklichkeit gewesen sein könnte bei den langen Debatten über die Folgen der Atombombe in der Nacht des gewitterbedingten Wartens. Auch der fast unmenschliche Druck, den General Groves auf die Wissenschaftler ausübte, ist durch diese Quellen gedeckt.

In den lyrischen Szenen, etwa der Liebesszene zwischen Oppenheimer und seiner Frau Kitty, flickt der polyglotte Physiker (der sogar Sanskrit lesen konnte), Gedichte von Baudelaire ein. Den Abschluss des ersten Aktes bildet ein geistliches Sonett des englischen Dichters John Donne, das später Benjamin Britten vertont hat: "Batter my heart". Es ist der Ausdruck einer gemarterten Seele, die den Glauben verloren hat und dennoch darum kämpft, von Gott zurückgeholt zu werden.

Für Furore sorgte auch die Inszenierung durch Yuval Sharon. Der junge amerikanische Regisseur stammt aus der freien Musiktheaterszene in den USA. In Karlsruhe konnte er zum ersten Mal die reichen technischen Möglichkeiten eines deutschen Stadttheaters nutzen. Und er tat es brillant. Die ganze Handlung des ersten Aktes spielt hinter einer durchsichtigen Leinwand. Auf dieser ist der schwere Gewitterregen angedeutet, daneben laufen Animationen und Comicstrips ab, die einerseits zum Bühnenbild gehören, andererseits die Handlung kommentieren . (Übrigens perfekt visualisiert von Künstlern der Karlsruher Hochschule für Gestaltung beim ZKM). Immer wieder öffnen sich auf dieser Leinwand kleine Fenster für kurze Dialoge, während die inneren Vorgänge der Figuren im Hintergrund nüchtern auf Millimeterpapier ablaufen.

Im zweiten Akt scheint die Zeit aufgelöst zu sein. Nur wenige Stunden vor dem Test der Bombe spürt man die Nervosität der Wissenschaftler. Alle sind bis zum Äussersten angespannt. Dem szenischen Problem des Stillstands begegnet der Regisseur durch den intensiven Einsatz des bewegten Chors und der Statisterie. Erst am Ende, wenn sich die extreme Spannung des finalen Countdowns auch musikalisch verstärkt und in einem markerschütternden Schrei gelöst wird, kommt der langsame zweite Akt zu seiner zwingenden Wirkung.



Armin Kolarczyk als Robert Oppenheimer (2. Akt)

Die Musik von John Adams verfügt über einen unglaublichen Reichtum von Klangfarben. Das Orchester "swingt" bisweilen, es kann eine nukleare Entladung ebenso in Musik setzen wie das Sonett eines englischen Lyrikers. Die Experte sehen Adams als einen Vertreter der sogenannten postminimalistischen Musik, die aber durchaus ins Ohr geht, nicht zuletzt weil sie unüberhörbar auch Anteile von Wagner und Strauss enthält. Es gab deshalb viel Applaus für den Dirigenten der Badischen Staatskapelle, Johannes Willig, und dem glänzend agierenden Chor. Höchstes Lob erntete auch zu Recht der famose Armin Kolarczyk, der die hochkomplexe Titelrolle des Robert Oppenheimers mit packender Intensität erfüllte. Alle weiteren Gesangsrollen waren ebenfalls sehr gut besetzt.

Postskriptum: die Wette um die Höhe der Sprengkraft der Plutoniumbombe gewann der Physiker Rabbi, ein Freizeit-Pokerer von hohen Graden. Er tippte auf 18.000 Tonnen TNT - die theoretischen Physiker hatten vorher 20.000 Tonnen errechnet!

Samstag, 3. August 2013

Der neue "Ring" - Triumph des Regietheaters?

"Regietheater" ist ein abwertender Begriff der Theaterkritik, welcher in den 1970er Jahren aufgekommen ist. Den Regisseuren wird damit vorgeworfen, dass sie die ursprünglichen Intentionen der Stückeautoren verletzen, indem sie willkürliche Kürzungen vornehmen oder die Handlung "grundlos" an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit verlegen, womit die Inszenierung vom eigentlichen Gehalt des Werkes ablenkt. Zumeist tummeln sich solche Regisseure  im Sprechtheater, neuerdings treiben sie ihr Unwesen aber auch im Musikbereich.

Frank Casdorf wird zu den Vertretern des Regietheaters gezählt. Ihm wurde kurzfristig von den beiden Bayreuther Intendantinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier die Inszenierung der Tetralogie "Der Ring der Nibelungen" anvertraut, nachdem vorher schon die Regisseure Tom Tykwer und Wim Wenders abgesagt hatten. Castorf hatte angeblich nur 30 Tage Zeit für seine Interpretation eines Werkes, wofür Richard Wagner sich 30 Jahre abmühte. Castorf, hauptamtlich Chef der Berliner Volksbühne, ist bekannt als "Stückezertrümmerer". Das scheint ihm auch beim Ring gelungen zu sein.


Obskure Orte, perfide Personen

Wagners Kosmos im Ring besteht gewissermassen aus drei Abteilungen: der Götterwelt, der Menschenwelt und der Unterwelt. Sie sind bestückt mit Göttern, Menschen, Riesen, Nixen und Zwergen, welche miteinander an den verschiedensten Orten agieren. Die wichtigste "Requisite" ist der Ring, welcher aus dem Gold des Rheins geschmiedet wurde und der seinem Besitzer unbegrenzte Macht verleiht, der aber gleichzeitig mit einem argen Fluch belegt ist.

Castorfs Grundidee ist es, das Gold durch Erdöl zu ersetzen, was aber leider nur unzulänglich gelungen ist. So spielt das Rheingold in Texas an der "Route 66". Die Rheintöchter sind drei laszive blonde Miezen, die gelangweilt am Pool eines miesen Motels herumlungern und ihre Spitzenhöschen auf eine Wäschespinne hängen. Der Göttervater Wotan ist ein zwielichtiger Pate in rosa Anzug und  Goldkettchen. Er hurt herum und wird nur zärtlich, wenn er mit der Hand über seinen silbernen Mercedes streicht. Der Zwerg Alberich erscheint als schmieriger Mafiosi, sein Bruder Mime schwenkt immerzu - warum eigentlich? - die Regenbogenfahne der Schwulenbewegung. Auf dem Dach des Motels hat Castorf eine Videoleinwand aufstellen lassen, auf der Live-Bilder des Bühnengeschehens  zu sehen sind. Wie im Fussballstadion! Der Brudermord des Riesen Fafner an Fasolt wird in Grossaufnahme zelebriert.

Die Walküre spielt auf einem Ölfeld in Aserbaidschan. Die Kulisse ist ein schäbiger Förderturm auf einer Drehbühne. Nach der Liebesnacht zwischen Siegmund und Sieglinde - bei welcher der spätere Held Siegfried gezeugt wird - lässt Castorf auf einer Leinwand einen historischen Schwarzweissfilm mit einer gelungenen Ölbohrung abspulen. Bei einem Gasunfall werden einige "Helden der Arbeit" getötet, die sodann von den acht Walküren bei ihrem wohlbekannten Walkürenritt eingesammelt werden. Hojotoho! Da sich Brünnhilde der Forderung ihre Göttervaters Wotan widersetzt hat, wird sie zur Strafe auf dem Ölfeld in Arrest gelegt. Neben ihr brennt, zur Bewachung, ein Ölfass.

Das Bühnenbild im Siegfried ist janusköpfig. Vorne zeigt es eine Abwandlung des Mount- Rushmore-Monuments mit Marx, Lenin, Stalin und Mao, das der Anarchist Siegfried gerade mit dem Hammer bearbeitet. Danach dreht sich die Bühne in die Gegenwart und Berlin, Alexanderplatz mit seinen U- und S- Bahnstationen erscheinen. Siegfried schmiedet nicht, wie von Wagner vorgegeben, die Trümmer des Schwerts Nothung zusammen, sondern packt praktischerweise zwei fabrikneue Kalaschnikows aus. Mit einer lautstarken MP-Salve streckt er den Schalterbeamten (alias Drachen) Fafner in einem U-Bahnschacht nieder, was angeblich einen Zuschauer in der 20. Reihe in Ohnmacht fallen liess. Danach kriechen zwei Riesenkrokodile über die Bühne und fressen bedauerlicherweise den so herrlich singenden Waldvogel. Inzwischen haben sich Brünnhilde und Siegfried getroffen und richten vor einem Bahnhofskiosk ihr Hochzeitsdinner aus.

In der Götterdämmerung hantieren die Schicksalsnornen im Hinterhof eines Backsteinhochhauses mit einer eisernen Feuertreppe. Die Behausung von Siegfried und Brünnhilde ist ein Wohnwagen vor dem verhüllten Reichstag. Später fallen die Tücher und die Säulenfundamente der New Yorker Börse kommen zum Vorschein, ganz nach dem Motto: Walhall ist Wall Street. Gunther, der Chef der Gibichungenfamilie weilt ebenfalls in Berlin und herrscht über die erste Dönerbude am Platze, gleich neben der Mauer. Sein Halbbruder Hagen ist Anführer einer schwarz gewandeten Schlägertruppe und erledigt später Siegfried mit dem Basballschläger. Nach diesem Mord lässt Brünnhilde die ganze Szene in einem grossen Feuer aus gestapelten Ölfässern aufgehen. Die Rheintöchter schicken den toten Siegfried mit dem Ring auf einem Schlauchboot in die ewigen Rhein-Jagdgründe.

Musikalisch und sängerisch war das Bayreuther Premierenpublikum mit dem Ring weitgehend zufrieden. Vorsorglich hatten die beiden Wagnertöchter mit Casdorf vorher vereinbart, dass er keine Änderungen an den Texten oder gar an der Musik vornehmen dürfe. Als Dirigent fungierte der Russe Kirill Petrenko, der zum ersten Mal in Bayreuth auftrat und eine makellose Leistung ablieferte. So transparent und gleichzeitig so machtvoll war der Ring auf dem Hügel selten zu hören. Die Sänger waren, bis auf wenige Ausnahmen, durchweg gut bis sehr gut. Leider konnte Lance Ryan als Siegfried das "Bellen" in der Mittellage nicht ganz unterdrücken und der Koreaner Attila Jun als Hagen presste und drückte so stark, dass er mitunter schwer zu verstehen war. Geradezu fulminant aber sangen Anja Kampe als Sieglinde und Johan Bothe als Siegmund. Sie wurden zu Recht vom Publikum stürmisch gefeiert.


Publikumsbeschimpfung zum Schluss

Zusammenfassend muss man sagen, dass Frank Casdorf zu Wagners Jubiläumsjahr beileibe keinen Jahrhundertring abgeliefert hat, sondern eher einen bescheidenen Jahresring. Er machte zwar seinem Ruf als Werkzertrümmerer alle Ehre, dafür musste er aber allzu oft tief in die Klischee-Kiste greifen. Seiner Inszenierung fehlt die grosse durchgängige Idee, das angekündigte Ölthema wird nicht ausgearbeitet und wirkte zeitweise nur banal. Ein paar nette Gags, ein paar beeindruckende Videoperspektiven, aber kein ernst gemeintes einigendes Konzept. Das ist für Bayreuth zu wenig.

Zum Schluss kam es noch - zum ersehnten? - Eklat. Als Castorf nach der Götterdämmerung mit seinem Team zum ersten Mal vor das Publikum trat, wurde er mit vereinzelten Bravorufen, zumeist aber mit wütenden Buhrufen empfangen. Er blieb einige Momente fast regungslos stehen, was stilvoll anmutete. Aber dann begann er zu gestikulieren, tippte sich mit den Fingern ans Hirn und provozierte mit allerhand weiteren unartigen Gesten das Publikum. Schliesslich ging er, nach geschlagenen zehn Minuten, ohne Verbeugung ab.

Ob Castorfs Ring, wie eigentlich geplant, bis zum Jahr 2018 auf dem Bayreuther Spielplan bleiben wird, ist nach dieser Vorstellung zumindest fraglich.











Samstag, 27. Juli 2013

Durch wieviele Hände ging der Ring der Nibelungen?

Sommerzeit ist Festspielzeit, beispielsweise in Bayreuth. Jeweils von der letzten Juliwoche bis zur letzten Augustwoche werden dort Wagner-Opern en suite gespielt. Tickets sind schwer zu bekommen, die vier Opern des "Ring der Nibelungen" gibt es nur im Paket. Für einen Parterresitz in der 10. Reihe (5 Reihen hinter Merkel!) löhnt man die beträchtliche Geldsumme von rd. 1.000 Euro. Und wenn man die holde Gattin (oder die süsse Freundin) einlädt, dann sind es schon 2.000 Euro. Hinzu kommen noch locker 1.000 Euro an Hotelkosten. Demgegenüber ist allerdings im Restaurant des Festspielhauses ein Brötchen mit zwei schmackhaften fränkischen Bratwürsten schon für 2,50 Euro zu haben und das Pils kostet blosse 3 Euro.

Beträchtlich teurer ist schon wieder das buchförmige Theaterprogramm mit dem Inhalt der verschiedenen Stücke. Hier setzt meine Hilfestellung als Blogger ein. Quasi als Entschädigung dafür, dass meine Leser ein ganzes Jahr lang meine Blogs zu verschiedenen Themen ertragen haben, möchte ich mit diesem Post eine Kurzfassung des "Rings" anbieten. Die etwas verworrene Geschichte des Goldraubs wird verständlich dargestellt und die verschiedenen Gauner, welche sich des daraus geschmiedeten Rings bemächtigt haben, werden namentlich identifiziert. Ich empfehle Ihnen also, liebe Leser, auf das teure Programm der Katharina Wagner zu verzichten und einen print-out meines Kurzblogs in den Theatersaal zu schmuggeln.


Das Rheingold

Die Story beginnt in archaischer Zeit, als der Rhein noch nicht durch die Abwässer der Chemiefirmen Roche, BASF und Hoechst versaut war, sondern das Flussbett sich in purem Gold darbot. Dieser Schatz sollte durch die drei Rheintöchter bewacht werden, die aber ihre Pflichten nur liederlich wahrnahmen. Alberich, dem Anführer des Zwergenreiches, gelang es das Gold zu rauben, sein Bruder Mime schmiedete daraus einen Ring, mit dessen Hilfe man zu unbeschränkter Macht kommen konnte - sofern man der Liebe entsagte.

Alberich war also der erste Besitzer des Nibelungenrings, nennen wir ihn, nach mathematischer Logik, Alberich (1).  Lange konnte er sich daran nicht erfreuen, denn Gottvater Wotan brauchte Geld für seine Burg Walhall und raubte ihm mit brachialer Gewalt den kurz vorher geschmiedeten Ring. Also: Wotan (2). Wotan reichte den Ring, gezwungenermassen, an den monströsen Bauunternehmer Fasolt weiter - Fasolt (3).  Der allerdings, konnte sich nur kurze Zeit daran erfreuen, denn sein ähnlich ungeschlachter Bruder Fafner erschlug ihn, streifte sich den Ring über und entschwand als Fafner (4).


Die Walküre

Nach diesem turbulenten Auftakt liess es Wagner in der zweiten Ringoper, der Walküre, ruhiger angehen. Der Ring spielt darin keine Rolle, wir müssen annehmen, dass er noch am Finger des Brudermörders Fafner steckt. Stattdessen verwöhnt Wagner sein Publikum mit dem Walkürenritt, viel Hojotoho und mit einer drallen Dirn, namens Brünhilde.


Siegfried

In der dritten Oper, dem Siegfried, geht es wieder zur Sache. Wir begegnen erstmals diesem inzestiösen, aber kraftvollen Götterprodukt Siegfried beim Schmieden seines Schwertes Nothung. Er kann es brauchen, denn bald darauf trifft er im dunklen Tann auf einen schröcklichen Drachen, hinter dem sich niemand anders verbirgt als der Baumeisterriese Fafner, den wir schon aus dem Rheingold in schlechter Erinnerung haben. Mittels des ebenfalls geraubten Tarnhelms hat er sich in einen Drachen (beziehungsweise Lindwurm) verwandelt und bewacht nun, quasi als Fafner/Drache (4), das geraubte Gold samt Ring. Wie nicht anders zu erwarten, erschlägt Jungheld Siegfried mit seinem Superschwert Nothung den Drachen, und steckt sich - als Siegfried (5) -  den Ring über, ohne allerdings seine mythologische Bedeutung zu erkennen. Unter ornithologischer Leitung des Waldvogels gelangt Siegfried zum Walkürefelsen, findet dort Brünhilde, wo aber ein Ringaustausch (noch nicht) stattfindet.


Götterdämmerung

Das geschieht im Vorspiel der vierten Ringoper, der Götterdämmerung. Noch während die Nornen am Weltfaden spinnen, und berauscht von der Liebesnacht mit Brünhilde, steckt Siegfried der Walküre den Ring an und verzichtet damit auf dessen Macht. Brünhilde (6) ist nun also Besitzerin des Nibelungenrings und Siegfried begibt sich auf eine längere Rheinfahrt.

Bei der Gibichungenhalle, einem Herrschersitz am Rhein, legt er einen Stopp ein und verliebt sich (dank eines Zaubertranks) in Gutrune, die Schwester des Burgherrn Gunther. Dieser möchte seinerseits Brünhilde heiraten und Siegfried sagt zu, bei diesem Unternehmen zu helfen. Mit dem Tarnhelm verwandelt er sich in Gunther, bezwingt Brünhilde und entreisst ihr den Ring. Siegfried wird dadurch zum zweiten Mal sein Besitzer als Siegfried (7).

Bald darauf fliegt die Chose auf, es kommt zu ernsthaften Zerwürfnissen im Hause der Gibichungen und der düstere Hagen tötet Siegfried mit seinem Speer hinterrücks bei einem Jagdausflug. Auf einem Scheiterhaufen verbrennt sich Brünhilde mit dem toten Siegfried, wobei die Flammen bald auf Gibichungen und sogar die Götterburg Walhall übergreifen. Schliesslich tritt der Rhein aus seinem Bett und überflutet die Reste. Die Rheintöchter tauchen wieder auf, holen sich aus der Asche den Nibelungenring zurück und bringen ihn wieder - als Rheintöchter (8) - zum Grunde des Stroms.

Alle, die den Ring unrechtmässigerweise besassen, sind zu Tode gekommen. Die Herrschaft der Götter ist ebenfalls zu Ende gekommen. Zurück bleiben die Menschen, die sich ein weiteres Mal um die freie und hehre Liebe bemühen können.

Aber, die Zukunft ist offen.











Sonntag, 3. März 2013

Die Kunst geht nach Brot

Eines ist sicher: reich wird man durch das Plagiieren von Doktorarbeiten nicht. Diese Werke erzielen, sofern sie überhaupt als Buch gebunden werden und einen Verleger finden, nur Mini-Auflagen. Beim Versandhändler Amazon sind sie gelegentlich gelistet, ansonsten liegen sie wie Blei in den Verkaufsregalen.

Das ist anders bei Plagiaten im Bereich der Kunst. Fälschungen im Stil bekannter Maler oder Bildhauer "bereichern" seit eh und je den Kunstmarkt. Im Gegensatz zu Doktorarbeiten bleiben die Produzenten dieser Falsifikate aber im Dunkeln. Kenner des Kunstmarktes schätzen, dass 30 Prozent der angebotenen Gemälde und Skulpturen gefälscht sind. Das entspricht einem Schadensumfang von ca. 2 Milliarden Euro jährlich!

Alte Kunst ist out

Gross ist das Sehnen der Menschen nach alter Kunst. Wenn im Louvre jeden Tag 20.000 Menschen zu Leonardos Mona Lisa strömen, so kommt dies einer Reliquienverehrung oder gar einem Gottesdienst gleich. Und der unbekannte Japaner, welcher vor Jahren ein Sonnenblumenbild von Van Gogh für 100 Millionen Euro erstand und es seitdem in einem licht- und luftlosen Tresor des Genfer Zollfreilagers verwahrt, muss ein Kunstfreund besonderen Kalibers sein.

Das Angebot an alter Kunst aus dem 19. Jahrhundert und davor ist allerdings begrenzt. Zum einen, weil die Künstler nicht mehr produzieren können, da sie gestorben sind; zum anderen, weil sich auch "begabte" Fälscher nur noch selten an dieses Genre wagen. Der Grund liegt darin, dass mittlerweile die physikalischen Untersuchungsmethoden zur Feststellung von Betrugskunst immer ausgefeilter werden und Expertisen schon für wenige tausend Euro zu haben sind.



Farb- und Pigmentproben im Doerner-Institut

Das Doerner-Institut der Bayerischen Staatsgemäldesammlung durchleuchtet beispielsweise jedes eingelieferte Gemälde zunächst mit dem Infrarotreflektor. Damit kann man schon erkennen, ob sich unter der angeblichen Renaissance-Madonna eine Mickeymaus befindet, die einfach übermalt wurde. Danach wird eine Röntgenfluoreszenzanalyse erstellt, woraus man feststellen kann, welche Materialien der Maler (beziehungsweise der Fälscher) verwendet hat. Findet man Coelinblau, welches es erst seit 1860 gibt, dann hat die Madonna ausgelächelt. Mit dem Raman-Mikroskop, schliesslich, kann man organische und synthetische Malfarben erkennen, welche in der Neuzeit die klassischen Pigmente aus Pflanzen, Mineralien und Insekten abgelöst haben. Das Doerner-Institut besitzt einen ganzen Schrank mit gesammelten Material-, Farb-und Pigmentproben, die jeweils den Epochen ihres Aufkommens zugeordnet sind.


Zeitgenössische Kunst ist in

Bei der zeitgenössischen Kunst - gemeinhin als "moderne Kunst" bezeichnet - greifen die genannten physikalischen Nachweismethoden nicht. Nach dem Krieg sind kaum mehr neue Farben auf den Markt gekommen; einen Fälscher aufgrund seiner Palette zu überführen, ist praktisch unmöglich. Solange die Künstler noch leben, scheint die Verifizierung ihrer Arbeiten relativ einfach zu sein. Maler wie Gerhard Richter besitzen ein akribisch geführtes Werksarchiv - trotzdem gibt es auf dem Markte jede Menge Richter-Fälschungen. Und Maler wie A. R. Penck und Jörg Immendorff haben am Abend ihrer Karriere eine Unzahl von Assistentenarbeiten zum Gelderwerb signiert. Kein Wunder, dass Penck zu den meistgefälschten deutschen Malern gehört.

Richtig krachen liess es der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, der vor gut 60 Jahren als Wolfgang Fischer in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Höxter geboren wurde. Nach dem Kurzbesuch einer Kunstschule zog er jahrzehntelang mit Kommunen durch Europa, wobei Sex, Drugs und Rock´n Roll angesagt waren. Dazwischen malte er immer wieder Bilder "im Stil bekannter Maler", wie Max Ernst, Heinrich Campendonk und Max Pechstein, die er zusammen mit seiner Frau Helene in den Kunstmarkt einschleuste. Das Paar gab an, dass sie aus einer (bis dato unbekannten) "Sammlung Werner Jäger" entstammen würden, die aber gar nicht existierte. Beltracchi schuf also Originale, nämlich ungemalte Bilder des jeweiligen Künstlers. Dabei war er zuweilen "besser" als Max Ernst oder Pechstein selbst. Einen Linkshänder malte er ebenfalls mit links und konnte damit lange Zeit alle Experten hinters Licht führen.


Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi

Aber Beltracchi war zu fleissig, schliesslich kam man ihm doch auf die Spur. Im Oktober 2011 verurteilte ihn das Kölner Landgericht wegen gewerbsmässigen Bandenbetrugs zu sechs Jahren Haft. (Die fromme Helene erhielt vier Jahre). Zur Abkürzung des Verfahrens liess sich das Gericht auf einen "Deal" ein: als er 14 Fälschungen gestanden hatte, ging man den weiteren 44 gar nicht mehr nach. Kenner nehmen an, dass noch 100 bis 200 Arbeiten von Beltracchi im Kunsthandel zirkulieren und wohl ihre Abnehmer finden werden.

Beltracchi hätte seine Malereien nicht in den Markt einschleussen können, wenn er nicht von Gutachtern wie Werner Spies unterstützt worden wäre. Diese bekundeten durch falsche Expertisen die "Echtheit" dieser Werke und liessen sich dafür fürstlich bezahlen. Des weiteren kassierten sie Provisionen beim Verkauf der Falsifikate. So soll Spiess bis zu 400.000 Euro erhalten haben, die als Schwarzgeld auf  Schweizer Konten landeten. Die Justiz hat bei Spies offensichtlich resigniert; bewusste Beihilfe zum Betrug konnte ihm nicht schlüssig nachgewiesen werden. Er bleibt somit Ehrendoktor der Universitäten Berlin und Tübingen und behält das Grosse Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.


Die Gier nach dem Original

Im Mittelalter konnten sich die Menschen noch an einem Bild oder einer Holzskulptur erfreuen, der Name des Künstlers war sekundär. Schon gar nicht erwartet wurde, dass er das Werk signierte. Erst in der Neuzeit begann - in der westlichen Gesellschaft - die besondere Wertschätzung des Einmaligen und des Künstlers. Der französische Bildhauer Marcel Duchamp versuchte im vorigen Jahrhundert diesem Kult des Originals entgegenzuwirken, indem er frei käufliche Objekte wie Flaschenhalter, Urinale und Fahrad-Räder auf Podeste stellte und sie zu Kunstwerken erklärte. Die Idee des "Ready-mades" war geboren und die Kunsthistoriker sprachen fürderhin von "Konzept-Kunst". (Duchamp war allerdings clever genug, eine Unzahl seiner Flaschentrockner in Museen und Gallerien für gutes Geld zu signieren).


"Flaschentrockner" von Marcel Duchamp

Doch die Idee des Originals entwickelte sich weiter. Heute ist "Eigenhändigkeit" kein ästhetisches Wertkriterium mehr. Jeff Koons´ Plastiken werden von Werkstätten produziert und Tino Sehgals Performancekunst hinterlässt keine Spuren, die man signieren könnte. Bei der letztjährigen Dokumenta 13 in Kassel räumte man das gesamte Erdgeschoss des Museums Fridericianus leer und liess einen Windhauch (als Kunstwerk) durch die Räume wehen. Die Juristen, welche diese Art von Kunst im Urheberrecht definieren sollen, sind fürwahr nicht zu beneiden.

Die Kunst wird immer weniger greifbar, aber noch immer gilt der Spruch meines bayerischen Landsmannes Karl Valentin:
"Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit".

Samstag, 16. Juni 2012

Frischer Wind bei der Documenta 13

Es ist Documenta-Zeit. Kassel ruft wieder. Seit mehr als vier Jahrzehnte lassen meine Frau Brigitte und ich uns dieses Ereignis nicht entgehen. Die Documenta ist die weltweit wichtigste Ausstellung bei der man Gegenwartskunst hautnah erleben kann.

Schöne Reminiszenzen

Von der Documenta 4 (genannt d4) im Jahr 1968 sind mir noch die Versuche des Künstlers Christo in Erinnerung, der sich mühte, ein 5.600-Kubikmeter-Ensemble aus verpackter Luft senkrecht aufzustellen (im Volksmund "Wurst" genannt), was ihm erst nach etlichen Versuchen gelang.
Die d5 war geprägt durch die Happenings von Joseph Beuys. Noch deutlich vor Augen habe ich das eindrucksvolle Environment "Five Car Studs" von Ed Kienholz über die Kastration eines Schwarzen in den US-Südstaaten.
Von der d6 ist mir  Walter de Marias vertikaler Erdkilometer in Erinnerung, von dem noch heute eine kleine Messingscheibe in einer Sandsteinplatte zeugt.
Die d7 war geprägt durch die gigantische Spitzhacke des Claes Oldenburg, welche man jetzt noch am Ufer der Fulda besichtigen kann. Noch wichtiger für das Stadtbild aber waren die 7.000 Eichen, die Beuys im Rahmen einer Aktion in der Autostadt Kassel pflanzen liess.
Die d8 war gekennzeichnet durch allerlei Skandale. Im Austellungsgebäude Friedericianum montierte der Künstler Hans Haacke das Logo der Deutschen Bank mit dem Mercedes-Stern zusammen, um auf die Verflechtung mit dem Apartheit-System in Südafrika zu verweisen.
Bei der d9 im Jahr 1992 errichtete der Nigerianer Mo Edoga aus Abfallholz einen "Signalturm der Hoffnung". Jonathan Borofsky liess vor dem ehemaligen Hauptbahnhof einen Reisenden als "Himmelsstürmer" auf einem 25 Meter langen Stahlrohr hochmarschieren, das in einem steilen Winkel von 60 Grad aufgestellt war.

Im Jahr 1997, bei der d10, war erstmals eine Frau als Kuratorin am Ruder, die Französin Catherine David. Sie wollte die Ernsthaftigkeit durch mehr konzeptionelle Kunst zurückbringen, was ihr allerdings nur teilweise gelang. Das Künstlerpaar Carsten Höller und Rosemarie Trockel richtete ein "Haus für Schweine und Menschen" ein und Christoph Schlingensief lief mit einem Schild durch die Gegend, auf dem zu lesen war "Tötet Helmut Kohl".
Die d11 konzipierte fünf Jahre später der Nigerianer Okwui Enwezor. Sie war sehr politisch und durch ihre Diskussionsforen und Videobotschaften geprägt.
Die d12 im Jahr 2007, kuratiert von Roger Buergel und seiner Frau Ruth Noack verhalf dem Chinesen Ai Weiwei zum Durchbruch. Er errichtete in der Karlsaue die Skulptur "Template", bestehend aus Fenster und Türen, die er aus Abrisshäusern seiner Heimat geborgen hatte. Vier Tage nach der Eröffnung liess ein Gewittersturm das Kunstwerk zusammenbrechen. Es wurde nicht wieder aufgebaut, da die Ruine noch gewaltiger wirkte, als das ursprüngliche Werk.

Die geheimnisvolle Frau CCB

Die diesjährige Leiterin der Documenta 13 heisst Carolyn Christov-Bakargiev, von ihren Mitarbeitern kurz CCB genannt. Sie wurde 1957 in New Jersey, USA, geboren, der Vater stammte aus Bulgarien, die Mutter war Italienerin. CCB studierte Kunstgeschichte in Frankreich und Italien und war später an verschiedenen, bedeutenden Museen in den USA und in Europa tätig. Ihr Spezialgebiet sind die Arte Povera und die einfach geformten Vasen ihrer Kindheit. Hinzu kam der amerikanische Minimalismus, eine Kunstauffassung, die man als leicht franziskanisch bezeichnen könnte.


Carolyn Christov- Bagargiev, die Leiterin der Documenta 13

Im Jahre 2009 wurde sie zur Kuratorin der d13 ausgesucht - ein Traumjob, der mit einem Budget von 25 Millionen Euro ausgestattet ist. Seitdem durchstreiften sie und ihre Co-Kuratoren, die verschwörerisch "Agenten" genannt werden, die ganze Welt und stöberten in den entlegensten Winkeln Künstler auf, die meist noch nicht arriviert waren, die aber dennoch viel zu sagen hatten. Knapp 200 haben sie gefunden, die mit 160 Werken in Kassel vertreten sind. Ihre Namen hat CCB bis zum Schluss geheim gehalten, ebenso wie die Botschaft der Ausstellung. Gedankenfetzen wie "der Mensch steht nicht im Mittelpunkt" oder "es gibt keinen Unterschied zwischen Kultur und Natur" tauchten immer wieder unkommentiert in den Medien auf und brachten sie in die Nähe von Esoterik und Magie. "Zerstörung und Wiederaufbau" ist eine andere Metapher, die aber auch der Banalität ziemlich nahe kommt.

Trotzdem: Frau Christov-Bagargiew ist nicht unbescheiden. Eine Million Besucher will sie in den nächsten hundert Tagen nach Kassel locken - 250.000 mehr als 2007 bei ihrem Vorgänger Buergel, dem damit bereits ein Rekord gelang. Alles hat sich den künstlerischen Visionen der Chefin unterzuordnen. Beinahe alles. Denn als eine kleine katholische Kirche in der Nähe eine Christus-Figur von Stephan Balkenhol in ihren Glockenturm platzierte, die direkt auf das Museum Friedericianum gerichtet war, verlangte sie deren Entfernung. Vergeblich, und seit dies zu einer kleinen Medienaffäre wurde, gibt es wohl keinen Documentabesucher, der nicht mit leichtem Schmunzeln auf dieses (Konkurrenz-) Kunstwerk schaut.

Sehenswerte Kunstwerke

Anbei eine kleine Auswahl sehenswerter Kunstwerke, geordnet nach ihrer Präsentation an den Hauptorten der Documenta 13. Der Klammerausdruck zu Beginn benennt die Katalognummer und den Namen des Künstlers.

Friedericianum

(Nr. 67 - Ryan Gander).  Eine Überraschung empfängt den Besucher im Friedericianum: das gesamte Erdgeschoss ist leer geräumt. Stattdessen weht eine leichte Brise durch die Räume. Wollen der Künstler (und die Kuratorin) damit sagen, dass bei der d13 ein neuer Wind weht? - Sehr beeindruckend!
(Nr. 106 - Goshga Macuga).  In der Rotunde wird eine riesige halbkreisförmige Fotografie gezeigt, auf der Gebäude und Personen in Kabul und Kassel ineinander montiert sind. Daraus ergibt sich ein politischer Hintersinn für die Zerstörungen und den Wiederaufbau, den beide Städte in ihrer jüngeren Kriegsgeschichte erlebt haben. Man kann darüber witzeln, ob CCB auch die Kunst am Hindukusch verteidigen will.
(Nr. 17 - Kader Attia).  Der Künstler zeigt Holzfiguren, die nach plastischen Operationen an Soldaten im ersten Weltkrieg angefertigt wurden. Darüberhinaus Objekte, wie Stahlhelme, denen durch Reparatur etc. eine neue Ästhetik verliehen wurde. Superb, geht aber unter die Haut!
(Nr. 192 - Anton Zeilinger).  Der bekannte - und seriöse - österreichische Physiker hat auf Drängen der Ausstellungsleiterin eine Reihe von kernphysikalischen Experimenten aus der Quantenmechanik aufbauen lassen. Sie zeigen die Interferenz am Doppelspalt, den Dualismus Teilchen/Welle und das Unschärfeprinzip. Auf meine Frage, wo die Berührung mit der Kunst sei, verwies er auf CCB, welche allerdings nicht anwesend war.  Als gelernter Physiker bin ich mir bei diesen Objekten hinsichtlich ihrer Ästhetik unsicher.

Documenta-Halle

(Nr. 108 - Nalini Malani).  Der Zuschauer findet sich umfangen von einer Kombination aus projizierten Videos und Schatten von Hinterglasmalereien. Die rotierenden durchsichtigen Zylinder sind wohl ein Verweis auf buddhistische Gebetsmühlen. Werden die Mühlen in Bewegung gesetzt, tauchen Motive aus der Kunstgeschichte und Sagenwelt auf und bilden neue Bedeutungen um sich anschliessend wieder zu trennen und weiter zu wandern - ein schwebender Prozess des Werdens und Vergehens. Möglicherweise das beeindruckenste Objekt der d13!
(Nr. 113 - Julie Mehretu).  Diese grossformatigen Gemälde sind geistige Landschaften mit historischen, architektonischen und geografischen Verweisen. Der zeitraubende Prozess ihrer Herstellung führt zu einer Vielzahl codierter Informationen und veranschaulicht wohl die chaotische Geistesverfassung unseres Jahrhunderts. Sehr beeindruckend!

Karlsaue

(Nr. 133 - Giuseppe Penone).  Dem Künstler dient seit langem der Baum als Leitmotiv. Im Tiefgestade von Kassel, dem ehemaligen Lustgarten, hat er bereits 2010 den Bronzeguss eines Baumes augestellt. Die Skulptur trägt in ihren Geäst einen tonnenschweren Stein; gleichsam schwebend entzieht sich dieser der Erdschwere. Am Baumfuss ist eine kleine, frisch gepflanzte Eiche - vermutlich eine Verbeugung vor Beuys. Die Arbeit ist ein Publikumsrenner und ein echter Hingucker.
(Nr. 145 - Araya Rasdjarmrearnsook).  Die Künstlerin lebt in einem kleinen Haus, das durch einen Zaun abgeschirmt ist. Sie teilt dieses Wohnumfeld mit einem Hund ("Dogumenta"). In den Fenstern des Hauses sind Monitore angebracht auf denen Videos von streunenden Hunden auf den Strassen Thailands gezeigt werden. Sie sollen die derzeitige politische Lage des Landes symbolisieren.
(Nr. 76 - Fiona Hall).  Die Objekte dieser Künstlerin beeindrucken durch ihre grazile und verstörende Schönheit und geben damit tiefe Einblicke in die Auswirkungen der Globalisierung auf unsere Umwelt. Für die d13 hat Hall ein Holzhaus in ein fantastisches Museum irgendwo zwischen Jägerhütte und Kuriosenkabinett verwandelt. Super!
(Nr. 37 - Janet Cardiff & George Bures Miller).  Ein Hörerlebnis in einer versteckten kathedralenartigen Lichtung in einem Waldstück der Karlsaue. Das Publikum ist eingeladen unter Bäumen zu sitzen, während sich eine komplexe Audiokomposition entfaltet. Die Geräusche von dreissig in der Natur angeordneten Lautsprecher führen die Zuhörer wie im Traum von einer Szene zur nächsten. Man glaubt, das Gras wachsen zu hören. Unbedingt hörenswert!
(Nr. 165 - Song Dong).  Dieser "Doing Nothing Garden" ist nichts weiter als ein sechs Meter hoher Müllberg vor der Orangerie. Er besteht aus geschichteten Abfällen von Schutt und organischen materiealien. Da er schon mit Gras und Blumen überwachsen ist, bestätigt er CCB´s Motto vom Vergehen und Wiederauferstehen. Ein Hingucker!

Ottoneum

(Nr. 9 - Maria Thereza Alves).  Das Kunstwerk beschäftigt sich mit den Umweltsünden und der Wasserpolitik der Metropole Mexiko-Stadt. Seen werden trocken gelegt, Grundwasser wird exzesiv abgepumpt, sodass die eingeborene Bevölkerung nicht nur in Not sondern auch in Gefahr gerät, dass sich ihre Grundstücke kontinuierlich absenken. Wäre das beste Negativbeispiel für den Tag des Wassers.

Neue Galerie

(Nr. 59 - Geoffrey Farmer).  Seine Arbeit besteht aus Hunderten von Schattenspielpuppen aus Fotos, die der Künstler aus der klassischen amerikanischen Illustrierten "Life" ausgeschnitten hat. Die Bilder entstammen aus fünfzig Jahrgängen des Magazins von 1935 bis 1985, einer Zeit, in der Millionen von Amerikanern ihre Sicht der Welt aus Life bezogen haben. Durch seine Technik der Fotomontage verflüchtigt sich Zeit und Raum und der Betrachter gewinnt eine ganz neue historische Sicht. Sehenswert!


Hauptbahnhof

(Nr. 44 - István Csákány).  Hinter einem Schaufenster befinden sich in zwei Reihen aufgestellte Nähmaschinen, Bügelmaschinen und Gegenstände, wie sie typischerweise in Nähwerkstätten zu sehen sind - aber allesamt kunstvoll aus Holz geschnitzt. Die etwas überlebensgrossen Maschinen beschwören das Bild eines stillgelegten Betriebs herauf, dessen Gerätschaften, Kabel und Neonröhren sämtlich unversehrt sind. Die von Hand gearbeiteten Maschinen und die Stoffanzüge nebenan bringen die einstmals enge Beziehung zwischen Arbeit und Kunst in Erinnerung. Unbedingt sehenswert!
(Nr. 184 - Clemens von Wedemeyer).  Ein hochkomplexes, aber sehr eindringliches Video von drei Spielorten: dem KZ Breitenau, dem Einrücken der US-Truppen nach Kassel und den Insassen eines Mädchenerziehungsheims in den 70er Jahren. Der letztgenannte Abschnitt lehnt sich frei an Ulrike Meinhofs Film "Bambule" an. Die drei getrennten Filmschleifen greifen an vielen Stellen ineinander, sodass die Zeitebenen zusammenfallen. Darüberhinaus verwischen optische Effekte, wie Schatten, Rückprojektionen und Doppelbelichtungen, die Grenzen zwischen den Zeitstufen. Unbedingt sehenswert!
Nr. 93 - William Kentridge).  Im Mittelpunkt von Kentridges Arbeiten steht die Zeit. In seinem Werk "The Refusal of Time" beleuchtet er die moderne Gesellschaft mit ihrer Vernetzung der standardisierten Uhren. Newtons Masszeit und Einsteins Relativitätstheorie treffen als Gegensätze aufeinander und werden von riesigen projizierten Metronomen dirigiert.
(Nr. 61 - Lara Favaretto).  Ein riesiger, aber eindrucksvoller Abfallhaufen aus Altmetall am Ende des Hauptbahnhofs. Für die Kasselaner Bürger ein Grund zum Lästern ("Ist das etwa Kunst"?). Sei´s drum, auf alle Fälle ein Hingucker!


Fazit

Die Documenta 13 ist eine Reise wert, aber mindestens zwei Tage einplanen.
Also Freunde, ab nach Kassel!



Samstag, 17. März 2012

art Karlsruhe - alle Neune

Im Jahr 2003 wurde in den Messehallen Karlsruhe die Kunstaustellung "art Karlsruhe" zum ersten Mal veranstaltet. Die sogenannten Experten gaben diesem Event keine Zukunftschance - und hatten sich prächtig verkalkuliert. Seitdem, von 2003 bis 2012, gab es alljährlich und ohne Unterbrechung diese Ausstellung und sie wurde immer grösser. "Alle Neune" würde man in der Keglersprache diesen Erfolg bezeichnen. Mittlerweile ist die art Karlsruhe neben der Art Cologne und der Art Basel die einzige Kunstmesse von Rang; die Art Frankfurt, die Art Düsseldorf  und das Art Forum Berlin sind inzwischen eingegangen.

Dieses Jahr beschickten nicht weniger als 222 Galerien die art Karlsruhe. Sie präsentierten 1.500 Künstler mit 30.000 Werken aus 12 Ländern und auf 35.000 Quadratmetern. 150 Galerien musste der Kurator Ewald Karl Schrade abweisen. Schrade ist ohne Zweifel der spiritus rector dieser Ausstellung; ohne ihn würde es die art Karlsruhe nicht geben. Anfangs belächelt, hat er an sein Konzept geglaubt und es seither durchgehalten. "Badisch seriös" könnte man es nennen. Dabei sind ihm die vier grossen säulenfreien und lichtdurchfluteten Messehallen in Rheinstetten freilich entgegen gekommen. Wo gibt es Ähnliches? Sicherlich nicht bei der Art Basel, wo die Kojen fast auf Schuhkartongrösse geschrumpft sind, die aber vom Niveau her - daran ist nicht zu rütteln - immer noch die Nummer 1 in Europa ist. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal bei der art Karlsruhe sind ihre 20 ausladenden Skulpturenplätze, Ruhepunkte und Aufreger gleichermassen. Sie verbinden die Galeriengassen und werden von oben mit Tageslicht beschienen.

Ein Vorzug der art Karlsruhe ist auch ihre zentrale Lage. Kunstfreunde aus der Schweiz und Frankreich sowie aus Süd- und Westdeutschland können sie im Rahmen eines 2-Tage-Trips bequem bereisen. Da es bekanntermassen viele Sammler in diesem Umkreis gibt, sind die Galeristen fast durchweg mit ihren Umsätzen sehr zufrieden. Hinzu kommt, dass der Akzent in Karlsruhe seit jeher auf der Präsentation von Werken der sog. Klassischen Moderne liegt. Bilder von Kirchner, Kandinski, Miro, Schumacher, Nay, Richter etc. waren zu bestaunen. Die Preise bewegten sich im allgemeinen zwischen 50.000 bis 500.000 Euro; die Galerie Ketterer & Ketterer präsentierte mit der "Nächtlichen Phantasielandschaft" von Kirchner für drei Millionen Euro das teuerste Werk der Messe.


Emil Schumacher, G-9 ohne Titel, 1989, Gouache, 50*69 cm

Apropos Sammler: es scheinen immer mehr zu werden. Kunstobjekte zu erwerben ist in. Und Kunstsammeln  hat auch einen höheren Statuswert als beispielsweise der Erwerb einer Yacht - obwohl beides in vielen Fällen wohl Hand in Hand geht. Der Kunstmarkt boomt und anders als auf dem Aktienmarkt wird man für Insidergeschäfte nicht bestraft. Und die Herkunft des Geldes (Schwarzgeld) ist auch nicht immer gesichert, wird wohl nur in seltenen Fällen hinterfragt. Gemälde sind zu Ikonen des Kapitalismus geworden. Der Preis eines Werks wird immer mehr zum Indiz seines Werts. Der Preis ruft die Erhabenheit hervor, die frühere Deutungshoheit der Experten und Kunstgeschichtler gerät dabei in den Hintergrund. Wer will schon ein Bild von Jackson Pollock ernsthaft kritisieren, das mit 140 Millionen Dollar ausgezeichnet ist oder ein anderes von Gerhard Richter für 100 Millionen. Aber Vorsicht bei den Preisangaben: handeln ist allemal geboten, auch bei der art Karlsruhe und selbst wenn es sich um Drucke von nur 100 Euro handelt. Es gibt keinen Fixpreis!



A. R. Penck, "Transformer" , 1987, Filz-Objekt,  105*110*100 cm

Kritisch beäugt wird immer wieder die Qualität mancher Gegenwartskunst bei der art Karlsruhe. Hier ist man zu wenig experimentierfreudig, man vermisst die zukunftsweisenden Trends. Manche Objekte wirken leicht muffig, so zum Beispiel die Dekorationskunst vieler Asiaten. Oder was soll man von den 520 chinesischen Glückskatzen halten, die in Reih und Glied auf einer Tribüne angeordnet sind und - elektronisch gesteuert - mit ihren Goldpfötchen winke, winke machen?

Bestaunt wurden auch zwei Sonderschauen. Marli Hoppe-Ritter zeigte Werke aus ihrem kürzlich in Waldenbuch eröffneten Museum. Es war eine einzige "Hommage an das Quadrat", womit bewiesen wäre, dass die bei Schülern beliebte Schokoladentafel "Ritter-Sport" offensichtlich im Laufe der Zeit erkleckliche Gewinne abgeworfen hat. (Obwohl sie -früher- zum Preis von nur einer Mark verkauft worden ist). Und Gunter Sachs, apostrophiert als "Gentleman"-Playboy war mit Teilen   seiner sehenswerten Pop-Art-Sammlung vertreten. Neben Warholdrucken von ihm und Brigit Bardot interessierten sich die Besucher hauptsächlich für die halbnackten Frauen auf Knien, die der Künstler Allen Jones zu Tisch und Stuhl degradierte - ein Einblick in die laszive Geisteswelt des Schwerenöters Sachs.

Nach der art ist vor der art. Nächstes Jahr wird es mit der zehnten "art Karlsruhe" ein kleines Jubiläum geben. Mal sehen, was der agile Ewald Karl Schrade uns da bieten wird. Bis dahin sei an einen Ausspruch des Musikers Frank Zappa erinnert, der die bildende Kunst folgendermassen charakterisierte: "Kunst ist, aus nichts etwas zu machen und es zu verkaufen."

Impressum

Angaben gemäß § 5 TMG:

Dr. Willy Marth
Im Eichbäumle 19
76139 Karlsruhe

Telefon: +49 (0) 721 683234

E-Mail: willy.marth -at- t-online.de