Montag, 30. November 2015

Compliance - KIT erzieht Gutmenschen

Das englische Wort "Compliance" spielte im Schulunterricht vergangener Jahre kaum eine Rolle; im heutigen Berufsleben ist es von überragender Bedeutung. Im Wörterbuch wird Compliance mit Einwilligung bzw. Befolgung übersetzt, in realiter ist es jedoch zu einem Begriff der Betriebswirtschaftslehre geworden, der die Einhaltung von Gesetzen, Richtlinien und moralisch-ethischen Standards in Wirtschaftsunternehmen und Behörden beschreibt. Im Zentrum steht dabei die Vermeidung von Vorteilsnahmen ("Anfüttern") bis hin zu Bestechung und Korruption. Die Mitarbeiter sollen auf diese Delikte hin sensibilisiert werden und das Risiko einer Sanktionierung erkennen. Alle größeren Unternehmen in Wirtschaft und Verwaltung besitzen heute Organisationseinheiten, welche die Compliance in ihren Betrieben überwachen und die Mitarbeiter darin informieren und schulen.

Die Compliance-Kultur entstand in Deutschland vor ziemlich genau zehn Jahren im Gefolge des Schmiergeldskandals beim Elektrokonzern Siemens. Auf eine anonyme Anzeige hin durchsuchten im November 2006 Hundertschaften von Steuerfahndern und Staatsanwälten die Bürogebäude des Unternehmens sowie die Privatwohnungen der ranghohen Mitarbeiter und brachten dabei Unglaubliches zutage. Die zwei Jahre andauernden Ermittlungen ergaben, dass bei Siemens seit Jahren ein Korruptionssystem installiert war, welches hunderte von weltweit angesiedelten Scheinprojekten mit hunderte von Millionen Mark finanzierte. Der spätere Aufsichtsrat Gerhard Cromme sprach von einem wirtschaftlichen "Paralleluniversum", welches die Mitglieder des Vorstands jahrelang geduldet hatten. In der Buchhaltung gab es sogar einen Geheim-Code. "Legen Sie das in der Datei APP ab" bedeutete, dass Schmiergelder in Höhe von 2,55 Prozent des Preises genehmigt waren (A=2, P=5). Im letzten Abschnitt dieses Blogs werde ich auf die Konsequenzen dieses Skandals bei Siemens zurückkommen.

Aber nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch der Öffentliche Dienst - im weitesten Sinne - ist korruptionsanfällig. (Von international marodierenden Organisationen wie FIFA, UEFA und DFB ganz abgesehen!)  In Schäubles Staatsetat von über 300 Milliarden Euro stecken große Summen für Subventionen und Entwicklungshilfe, deren wirkliche Verwendung jedes Jahr, völlig zu Recht, vom Bundesrechnungshof unter die Lupe genommen wird. Selbst bei Forschungsinstitutionen und Universitäten kommt es zuweilen zu "Unregelmäßigkeiten". Etwa, wenn ein Projektleiter seine eingeworbenen Mittel satzungswidrig verwendet. Oder, wenn ein Professor einen - unangemeldeten und lukrativen - Nebenjob betreibt, der sich langsam zur Hauptbeschäftigung hin entwickelt.

Compliance bei KIT

Kein Wunder, dass man auch beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Korruptionsprävention betreibt durch den Aufbau einer Compliance-Abteilung. Immerhin werden bei KIT jährlich ca. 800 Millionen Euro an Finanzmittel verwaltet und ausgegeben. Margarita Bourlá ist dort die Beauftragte für Compliance und Korruptionspräventation, eine Rechtsanwältin, bei KIT angestellt als "Syndica" (gendergerecht ausgedrückt). Sie wird unterstützt durch drei Referentinnen, einer Ass. jur., einer Diplomkauffrau und einer Bachelor of Laws LL.B. (oder sollte man, ebenfalls gendergerecht, von "Bachelorette" sprechen?). Eine fünfte Kollegin befindet sich derzeit auf Elternurlaub. Die Häufung von Damen auf dieser Organisationseinheit mag ein Zufall sein, aber vielleicht ist das weibliche Geschlecht für solche Aufgaben besser qualifiziert. Für letzteres spricht, dass sie auch eine weibliche Vorgesetzte haben, die Vize-Präsidentin Dr. Elke Luise Barnstedt, ein Juristin und zeitweilig Direktorin beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

In der Hauszeitschrift KIT-Dialog (1.2015) kann man nachlesen, wie bei COMP (die Abkürzung der o. g. Abteilung) die Mitarbeiter des KIT informiert und geschult werden. Geschenke sollten den Wert von 25 Euro nicht überschreiten, empfohlen wird ein Blick in die Geschenkerichtlinie. Geburtstagslisten sind tabu und gegen sexuelle Belästigung wurde ein Leitfaden erstellt. Breiten Raum nehmen die Vorschriften bei Essenseinladungen durch Dritte ein. Belegte Brötchen sind unproblematisch, aber bei Einladungen ins Lokal - oder gar in ein Sternerestaurant - ist Vorsicht geboten. Im Zweifelsfall sollte man immer erst die Korruptionsbeauftragte fragen. Dass der eigene Chef mitgeht, ist nicht ausreichend; im Falle von Bedenken sollte man die Einladung besser ablehnen. Aber selbst wenn man, entgegen dem eigenen Rechtsgefühl, ein Essen ins Sternelokal angenommen habe, ist es sinnvoll - wenigstens hinterher - mit Frau Bourlá darüber zu sprechen. Falls man von einem regelwidrigen Verhalten erfahren hat, sollte man der Syndica einen anonymen Brief schreiben. Früher nannte man das, etwas abfällig, denunzieren oder verpfeifen; heute ist "whistle-blowing" positiv konnotiert.

Unter solch rigiden Randbedingungen wird sich die Zahl künftiger Gourmet-Essen bei KIT in Grenzen halten. Einen Event sehe ich jedoch, der unbedingt mit einem sehr gutem Menü in einem Sternelokal gefeiert werden muss: nämlich wenn, in ferner Zukunft, etwa um das Jahr 2025, die Messungen an dem kernphysikalischen Großversuch "Katrin" erfolgreich abgeschlossen sein werden. Wenn der Projektleiter und Professor D. in aller Welt bekannt gibt, dass die Ruhemasse des Elektron-Neutrino zu 8*10^-6 MeV/c^2 in Karlsruhe KIT Campus Nord bestimmt worden ist, dann ist eine Sause unausweichlich. Einladen wird vermutlich eine der Vakuumfirmen, welche, über zwei Jahrzehnte hinweg, eine Vielzahl von (kostbaren) Komponenten für diesen Versuch zugeliefert hat.

Zehn Personen, fünf von Katrin, fünf von der Lieferfirma sind eine angemessene Besetzung. Als Speisenfolge schlage ich (im gedanklichen Rückgriff auf frühere, längst vergangene, Projektleitertätigkeiten) vor: Hummersüppchen, Seezunge, Rehrücken, Rohmilchkäse, mousse au chocolat - begleitet von Champagner, Riesling und rotem Bordeaux. Die Rechnung wird sich, in einem guten Ein-Sterne-Restaurant, auf ca. 2.000 Euro belaufen - ein Klacks, in Anbetracht der ca. hundert Millionen Investitions- und Betriebsaufwendungen für die Katrin-Anlage. Möglicherweise wird Frau Bourlá, wenn sie im Vorfeld darüber informiert wird, skeptisch die Augenbrauen hochziehen. In diesem Fall schlage ich vor, die fünf COMP-Damen mit ins Restaurant einzuladen. Vergrößert die Rechnung auf 3.000 Euro.

Großes Aufräumen bei Siemens

Der Korruptionsskandal bei Siemens wurde in den Jahren von 2006 bis 2008, aufgearbeitet. Als erstes traf es den Aufsichtsratsvorsitzende Heinrich von Pierer und den Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld, die beide entlassen wurden. Hinzu kamen einige Vorstandmitglieder, wie der Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger. Die Amtsnachfolger Gerhard Cromme (im AR-Vorsitz) und der CEO Peter Loescher installierten eine zuweilen 500 Mann starke Untersuchungsabteilung, die jede Kontobewegung im fraglichen Zeitbereich unter die Lupe nahm. Der ehemalige Finanzminister Theo Waigel wurde als unabhängiger "Compliance-Monitor" verpflichtet. Von Pierer hat in seiner Autobiografie "Gipfel-Stürme" (bei Amazon noch für 4,64 Euro erhältlich) die damalige bewegte Zeit ausführlich beschrieben. Bekenntnisse zur eigenen Schuld sollte man in diesem Werk allerdings nicht erwarten.


Von Pierers Autobiographie

Die Gesamtkosten der verhängten  Strafen, Beraterkosten und Steuernachzahlungen beliefen sich schließlich auf 2,9 Milliarden Euro. Zu dieser erstaunlich hohen Summe hat auch das Drängen der US-amerikanischen Börsenaufsicht SEC beigetragen, denn die Aktie von Siemens war damals an der Wallstreet gelistet. Heinrich von Pierer stand im Zentrum der Recherchen, schließlich hatte er Siemens von 1992 bis 2005 als Vorstandsvorsitzender geleitet. Eine Schuld im juristischen Sinne war ihm jedoch nicht nachzuweisen, denn Schmiergeldzahlungen bei Wirtschaftsgeschäften waren damals in Deutschland nicht strafbar. Als der Druck der Öffentlichkeit zu groß wurde, bekannte er sich v. Piererzu seiner Verantwortung und zahlte im Jahr 2010 "freiwillig" 5 Millionen Euro - ohne Schuldanerkenntnis. Auch der ehemalige Finanzvorstand Neubürger - Vorgänger des jetzigen CEO Josef "Joe" Kaeser - geriet unter Druck. Aber erst 2014 konnte man sich mit ihm auf eine Schadensersatzsumme von 2,5 Mio Euro einigen, welche die Aktionärsversammlung der Siemens AG am 27 Januar 2015 akzeptierte.

Wenige Tage nach dieser Einigung beging Hans-Joachim Neubürger Selbstmord.

Sonntag, 22. November 2015

Nomen est Omen

"Gebt dem Kind einen schönen Namen", forderte die Erbtante Irmgard (und dachte dabei an den Ihrigen). Bei der Taufe entschieden sich die Eltern jedoch für Sarah, und die Tante war erkennbar sauer - für einige Wochen. Trotzdem: über Geschmäcker, insbesondere im familiären Bereich, lässt sich kaum streiten, wie das Beispiel der bayerischen Politikerfamilie Strauß zeigt. Die Ehefrau von Franz Josef, Marianne Zwicknagl, tauschte ihren Mädchennamen anstandslos gegen Strauß ein; die Tochter Monika war hingegen 31 Jahre lang mit dem Wirtschaftsprüfer Michael Hohlmeier verheiratet und behielt ihren Nachnamen Hohlmeier auch nach der Scheidung bei.

Auch bei Firmen ist die Namensgebung häufig eine kitzlige Sache. Früher, bei Beginn der Industrialisierung, war das hingegen ganz einfach. Das Unternehmen erhielt schlichtweg den Namen des Besitzers und firmierte einfach unter Krupp, Thyssen, Stinnes oder Ford. Zuweilen orientierte man sich auch am Produkt oder dem Arbeitsgebiet. Die "Badische Anilin- und Soda-Fabrik", abgekürzt BASF, gehört in diese Kategorie. Bemerkenswert ist, dass diese Firma jetzt noch reüssiert - obwohl sie sich weder im Badischen befindet, noch Anilin oder Soda fabriziert.

Anders war es bei "Evonik", ein Unternehmen, das die Trikots des Fußballvereins Borussia Dortmund ziert. Diese Firma entstand im Umfeld der Ruhrkohle und als man das Spezialchemie-Unternehmen "Degussa" einverleibte, wollte man damit die Kohlevergangenheit abstreifen und ersann den Kunstnamen Evonik. Eigentlich hätte der weltbekannte Namen Degussa näher gelegen, aber er war "braun" kontaminiert. Dort wurde nämlich in der Nazizeit, im Tochterunternehmen Degesch, der Giftstoff Zyklon B für die Vergasungsanlagen der KZ hergestellt.

Inzwischen wimmelt es auf den Aktienkurszetteln vor kunstvollen (oder gekünstelten) Firmennamen. Beispiele dafür sind Vonovia (ein Wohnungskonzern), Covestro und Lanxness (beide Chemie) und Targobank (ehemals Citibank). Der japanische Konzern Mitsubishi musste mit einem neuen Auto allerdings Lehrgeld bezahlen. Kein Wunder, wer hat schon Vertrauen in ein Produkt des Namens "i-Miev"? Besonders schlau stellte es der vormalige österreichische Manager Heinz Schimmelbusch an. Erst fuhr er - als damals jüngster Vorstandsvorsitzender Deutschlands -  den Weltkonzern "Metallgesellschaft" vor die Wand;  nach dem Fast-Bankrott sicherte er sich juristisch deren (immer noch guten) Namen und jetzt wartet er im Sächsischen auf betuchte Kaufinteressenten.

Ein Konzern spaltet sich auf

Beispielhaft für die Hürden der Namensgebung waren die Entwicklungen im Unternehmen E.on während der vergangenen zwei Jahre. Ende 2014 kündigte der E.on-Vorsitzende Johannes Teyssen an, das er den Konzern ab dem Jahr 2016 in zwei eigenständige Gesellschaften aufteilen werde. Das Geschäft mit dem Ökostrom, dem Netzbetrieb und den Kundenbeziehungen solle bei der Firma E.on bleiben; das "klassische" Geschäft mit Atom, Kohle und Gas werde in ein neues Unternehmen ausgegliedert. Der Name der neuen Gesellschaft sei "Uniper", was für "Unique Performance", also "einzigartige Leistungsfähigkeit" stehe. Angeblich habe ein langjähriger Mitarbeiter diesen Namen vorgeschlagen. Er sei aus 3000 ähnlichen Empfehlungen ausgewählt worden.

In den Medien wurde diese Ankündigung mit großer Skepsis aufgenommen. Dass das größte deutsche Energieversorgungsunternehmen seine Kernkompetenz so einfach auslagert, erschien wenig glaubhaft. Man vermutete allseits, dass E.on aus Frust den Bettel hingeworfen habe. Unter den politischen Einschränkungen der Energiewende war das Unternehmen wohl nicht mehr in der Lage, den Strom kostengerecht und rentabel zu produzieren. Man mutmaßte, dass E.on seine klassischen Bereiche, insbesondere die Kernkraftwerke, in eine Art "Bad Bank" einbringen wollte. Geradezu verheerend war die Reaktion der Politik. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel schickte eine Expertenkommission zur E.on- Zentrale nach Düsseldorf um festzustellen, ob dort noch genügend Reserven für den Rückbau der Kernkraftwerke vorhanden sind. "Die Eltern haften für ihre Kinder", war ein gängiges Schlagwort zu jener Zeit.

Im Herbst 2015 knickte E.on schließlich ein; der politische und mediale Druck war zu groß geworden. Die Firma gab bekannt, dass die Kernkraftwerke nicht an Uniper ausgelagert würden, sondern bei E.on verbleiben - allerdings unter dem Label "PreußenElektra". Dieser Name war in den 1920er Jahren vom Land Preußen eingeführt worden und ist seit nunmehr 15 Jahren vom Markt verschwunden. Die Rechte dieses Firmenmantels liegen jedoch immer noch bei E.on. "Ein toter Name für ein totgesagtes Geschäft" titelte das Handelsblatt sarkastisch.

Das Portfolio der neuen PreußenElektra umfasst die drei Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Isar 2, sowie drei weitere Blöcke, an denen die neue Gesellschaft minderheitlich beteiligt ist. Von den insgesamt fünf bereits stillgelegten Blöcken befinden sich die Atomkraftwerke Würgassen und Stade im Rückbau. Für Abriss und Entsorgung aller Nuklearanlagen hat E.on 16,6 Milliarden Euro zurückgelegt.  Rund 2.300 Mitarbeiter, die eigentlich zu Uniper wechseln sollten, bleiben dafür im Konzern.

Revirement im Management

Aus dem Geschäftsbereich E.on Kernkraft wird also in Zukunft PreußenElektra. Dies führt auch zu neuen Namen und Personen im Bereich des Managements. Der Aufsichtsrat berief bereits die wesentlichen Mitglieder des neuen Vorstands. Ab 15. November 2015 trat Guido Knott dem Vorstand der PreußenElektra bei; ab 1. Januar 2016 wird er deren Vorstandsvorsitzender sein.

In dieser Eigenschaft ersetzt er Ralf Güldner , der im Laufe des nächsten Jahres auf eigenem Wunsch aus dem Vorstand ausscheiden und in den Ruhestand treten wird. Güldner, ein promovierter Radiochemiker, der bei der Firma Alkem grundlegende Arbeiten am Pu-238 leistete, war seit 2010 Vorstandsvorsitzender der E.on Kernkraft sowie Präsident des Deutschen Atomforums. Er hat sich bereit erklärt, den neuen CEO in einer Übergangsphase zu unterstützen.

Guido Knott ist seit 2010 Bereichsleiter für Politik und Komunikation bei E.on SE. Zuvor war er Finanzvorstand bei E.on Hanse AG. Knott wird bei PreußenElektra unterstützt durch den gleichfalls berufenen Jan Homan, der das neugeschaffene Ressort Stilllegung und Rückbau verantworten wird.

"Guido Knott verfügt über breite Managementerfahrungen und ist wie kein anderer mit dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld unseres Geschäfts vertraut", sagte der Aufsichtsratsvorsitzende Bernhard Fischer zur Bestellung des Public Affairs-Experten.

Neue Leute braucht das Land. Politiker! Keine Kerntechniker.

Sonntag, 15. November 2015

Der Bretschneider Salto

Der Sport ist in diesen Tagen in die Krise geraten. Überall scheint es Korruption, Drogenprobleme und andere Abscheulichkeiten zu geben. Selbst die Magie des "Sommermärchens" ist am Welken. Aber Halt! Bei den kürzlichen Weltmeisterschaften im Geräteturnen im schottischen Glasgow gab es ein Ereignis, das uns Deutsche wieder stolz machen könnte: Einem Turner unserer Nationalmannschaft, dem 26-jährigen Chemnitzer Andreas Bretschneider ist am Reck ein überragender Übungsteil gelungen. Dieses turnerische Kunststück ist so kompliziert, dass selbst die Chinesen, Japaner und Russen, welche derzeit das Geräteturnen beherrschen, vor Neid erblassen. Alle wollten sie diesen Salto kopieren, aber keinem ist es gelungen. Reihenweise purzelten sie vom Reck.

Das internationale Kampfgericht honorierte die Leistung des deutschen Turners, indem es diesen Salto als "Bretschneider Salto" im vergangenen Jahr in seine Punktetabelle (genannt: "Code de Pointage") aufnahm. Gleichzeitig verlieh es diesem Übungsteil die Wertigkeit von 0,8 Punkten, was derzeit den höchsten Schwierigkeitsgrad am Reck darstellt. Bislang gab es am Reck (und auch an den fünf anderen olympischen Geräten, nämlich Barren, Ringe, Seitpferd, Sprung und Boden) als Höchstnote für Einzelelemente nur die Wertung 0,6 Punkte.

Der Bretschneider Salto ist, fachmännisch gesprochen, ein doppelter gehockter Salto mit doppelter ganzer Schraube oberhalb der Reckstange. Über ein Standphoto ist er nur schemenhaft darstellbar; ich füge deshalb zum Schluss ein Video an. Ich will trotzdem versuchen, diese Weltschwierigkeit im Rahmen eines Blogs "verbal" zu erläutern. Dabei beziehe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen im Reckturnen, das ich - vor 60(!) Jahren - etwa zehn Jahre lang betrieb und wo ich zu einigen bescheidenen Erfolgen kam. (Oftmaliger Münchener Studentenmeister und Bayerischer Mehrkampfmeister).

Aller Anfang ist schwer

Der Ausgangspunkt für Flugteile am Reck ist immer die sogenannte Riesenwelle. Hier schwingt der gestreckte Körper um die Reckstange, was sehr ästhetisch aussieht, aber immerhin zwei bis drei Jahre intensives Üben voraussetzt. Dabei müssen die Hände die Reckstange sicher umfassen, denn auf Grund der Fliehkraft im unteren Übungsteil wächst das Körpergewicht dort um das Sechsfache an. Ein schmächtiger 60-Kilogramm-Turner wiegt also beim Durchgang in der Lotrechten für Sekundenbruchteile 360 Kilogramm. Damit man einerseits fest zugreifen kann, andererseits dabei keine zu starke Reibung verursacht, stäubt man sich die Hände mit "Magnesia" ein, einem weißen Pulver.


Riesenwelle mit Kehre als Abgang
(Münchener Studentenmeisterschaft)

Bevor man sich an einen Salto heranwagt, beendet der turnerische "Anfänger" seine Übung zumeist mit einer sogenannten Kehre. Dafür lässt man kurz vor dem oberen Punkt der Riesenwelle die Reckstange mit einer Hand los und versucht sodann elegant abzuschwingen. Da dies aus dreieinhalb bis vier Metern Höhe geschieht, ist die Landung zum sicheren Stand nicht ganz einfach. Beim Wackeln - oder gar bei einem Sturz - gibt es die bekannten "Strafpunkte" als Abzug.


Salto vorwärts mit halber Schraube als Abgang aus der Riesenwelle
(Bayerische Meisterschaften, Turnfreunde geben Hilfestellung)

Die nächste Stufe des Fortschritts ist der sogenannte Abgangssalto. Man beendet die Gesamtübung - welche aus 6 bis 8 Elementen besteht - mit einem Salto aus der Riesenwelle heraus. Dies kann ein Vorwärts- oder ein Rückwärtssalto sein. Geübte Turner fügen noch eine "Schraube" an, was eine Drehung um die Längsachse darstellt. Mein Reckabgang war häufig ein gehockter Vorwärtssalto mit halber Schraube. Er wurde in der 50er Jahren durchaus noch hoch bewertet. Nicht selten misslang mir aber die Landung zum sicheren Stand, was auch mit lausigen Matten der damaligen Zeit zusammenhing.

Vom Kovacs zum Brettschneider

Das Turnen oberhalb der Reckstange begründete 1979 der ungarische Kunstturner Peter Kovacs mit dem von ihm erstmals vorgestellten "Kovacs-Salto". Dieser, nach ihm benannte Flugteil ist ein Doppelsalto rückwärts gehockt über der Reckstange u.zw. aus der Riesenwelle heraus. Man kann sich die Abfolge der Griffe am besten vorstellen, wenn man die Ziffern einer Wanduhr zur Hilfe nimmt. Die Ausgangsposition ist "12 Uhr": der Turner steht im Handstand über der Reckstange. Er vollführt eine Riesenwelle, indem er die Ziffern 11, 10, 9 etc. durchläuft. Bei "1 Uhr" löst er seinen Griff, der Schwung treibt ihn hoch über die Reckstange, beim Herunterfallen auf der anderen Seite könnte er um ca. 11 Uhr wieder die Stange greifen. Diese (relativ einfache) Übung vollführt er jedoch nicht. Sondern, nach Lösen des Griffs um 1 Uhr, zieht er die Beine zur Hocke an und vollführt einen doppelten Rückwärtssalto hoch über der Reckstange. Danach streckt den Körper wieder, fasst um 11 Uhr wieder die Reckstange und setzt die Riesenwelle mit den folgenden turnerischen Elementen fort. Dieser Kovacs-Salto war damals eine Höchstschwierigkeit und erbrachte 0,6 Wertungspunkte. Heute wird er von einer ganzen Reihe von Turnern vorgeführt und nur mehr mit 0,4 Punkten belohnt.

Andreas Bretschneider turnt den Kovacs-Salto natürlich "im Schlaf". Deswegen kam ihm, vor etwa zwei Jahren, auch die Idee, diesen Doppelsalto rückwärts mit einer Doppelschraube um die Längsachse zu kombinieren. Nach eigenen Angaben gelang ihm dieses Kunststück anfangs nur achtmal - bei fast tausend Versuchen. Das Problem dabei ist, dass man bei der Durchführung der zweifachen Querdrehung - und der zweifachen Längsdrehung - zumeist die Orientierung verliert und diese Übungsteile irgendwie "vermanscht und verschwurbelt". Schlimmstenfalls kann man mit dem Gesicht auch auf die Reckstange fallen, was heftige Schmerzen verursacht. Das Trainingsziel von Bretschneider war also, seine Flugkurve so zu stabilisieren, dass jeder Versuch identisch ist und er - ohne zu schauen - stets die Reckstange in den Griff bekommt. Die Flugdauer vom Lösen von der Reckstange bis zum Wiederfassen beträgt nur 0,9 Sekunden. Schließlich, bei einem internationalen Wettkampf 2014 im chinesischen Nanning, funktionierte der "Bretschneider" tadellos, sodass er vom anwesenden Kampfgericht offiziell anerkannt und mit 0,8 Punkten bewertet wurde. Seitdem gelingt dem Turner Bretschneider "sein Bretschneider" in 80 Prozent der Fälle.

Die Weltmeisterschaft in Glasgow

Derart vorbereitet, konnte Andreas Bretschneider im Oktober 2015 frohen Mutes zur Turnweltmeisterschaft ins schottische Glasgow reisen. Er durfte sich zwar immer noch nicht mit Fabian Hambüchen, seinem deutschen Turnfreund, vergleichen, der eleganter turnt, technisch gut ausgebildet ist und viel Ausstrahlung besitzt. Aber mit seinem Supersalto lag der technische Wert seiner Reckübung bei 7,3 , was ihn aufs Treppchen bringen sollte. Jedoch nur, wenn sein Bretschneider Salto auch gelang.

Und der Bretschneider gelang! Am Anfang turnte Andreas den "echten" Bretschneider, danach noch zwei Mal mit nur einer Längsdrehung. Die Kampfrichter notierten schon den Bonus von 0,8 Punkten und alle folgende Elemente waren ebenfalls gut geturnt und von beträchtlicher Schwierigkeit. Aber beim Abgang vom Reck passierte das Unglück. Andreas hatte durch den Drehschwung zu viel Vorlage und musste zwei deutlich erkennbare Schritte machen, um in den sicheren Stand zu kommen. Das kostete ihm mindestens einen Haltungspunkt und der Bretschneider war dadurch "für die Katz". Auf dem Video sind diese Sequenzen gut erkennbar.

Andreas Bretschneider landete auf dem 4. Platz. Für eine Medaille muss er nun bis zu den olympischen Spielen in Rio warten.

Video zu Bretschneiders Reckübung bei der Weltmeisterschaft in Glasgow

Sonntag, 8. November 2015

1989: Kanzler Kohl kurz vor dem Sturz

 Soweit ich die Weltgeschichte kenne, gibt es darin nur zwei Persönlichkeiten, deren knapp formulierte Ausprüche große Weltreiche zum Einsturz brachten. Der eine ist der römische Senator und Feldherr Marcus Porcius Cato der Ältere, welcher jede seiner Reden mit dem Satz beendete: "Cetero censeo Carthaginem esse delendam." (Im übrigen bin ich dafür, dass Karthago zerstört werden muss). Cato erlebte die Erfüllung seines Herzenswunsches nicht mehr, da sich Rom erst im Dritten Punischen Krieg dazu aufraffen konnte, seinem afrikanischen Erzrivalen den Garaus zu machen, als der Senator bereits 149 v. Chr. gestorben war.


Der zweite Promi dieser Art war der hochrangige DDR-Politiker Günther Schabowski, der am 9. November 1989 bei einer internationalen Pressekonferenz nach dem Zeitpunkt der Öffnung der Berliner Mauer gefragt wurde und darauf antwortete: "Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich". Mit dieser Bemerkung löste er umgehend einen riesigen Strom von DDR-Bürgern über die bislang streng gehütete Stadtgrenze aus, was binnen weniger Monate zum Zerfall des sowjetischen Weltreichs führte. "Schabi", wie ihn seine zahlreichen Freunde nannten, wurde zwar 1999 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits ein gutes Jahr später begnadigt. Er ist vor wenigen Tagen im Alter von 86 Jahren in Berlin verstorben.


Der Kanzler im Sinkflug


Das rasche Handeln von Helmut Kohl nach dem Mauerfall und seine Verdienste um die Wiedervereinigung sind allgemein bekannt. Aber wer erinnert sich noch daran, dass der Kanzler - nur zwei Monate vor der Öffnung der Berliner Mauer - vor dem politischen Sturz stand? Seit der nur knapp gewonnenen Bundestagswahl im Januar 1987 sah sich Kohl einer starken Phalanx hochrangiger Gegner in der eigenen Partei gegenüber, an deren Spitze ausgerechnet sein eigener Generalsekretär Heiner Geißler agierte. Eigentlich zur Loyalität verpflichtet, kritisierte ihn sein pfälzischer Landsmann subtil bis offen in den überregionalen Medien ZEIT und SPIEGEL, ja sogar in der konservativen Zeitung FAZ, wofür er den bekannten Journalisten Karl Feldmeyer gewann. Kohl konnte dies nicht entgehen und er ermahnte Geißler schriftlich zu mehr Kooperation. Als dies keinen Erfolg zeitigte, ließ er seinen Generalsekretär kommen und teilte ihm mit, dass er ihn beim bevorstehenden CDU-Parteitag in Bremen nicht mehr zur Wiederwahl vorschlagen werde. Geißler, der diesen Posten seit 12 Jahren inne hatte, war ob dieser Ankündigung so perplex, dass er nur noch "das kannst du nicht tun, Helmut", hervorbrachte, bevor er aus Kohls Büro hinaus rauschte.


Nachdem das Tischtuch zwischen diesen beiden Granden zerschnitten war, betrieb Geißler ganz offen die Abwahl Kohls als Parteivorsitzender beim bevorstehenden Parteitag am 11. September 1989 in Bremen. Heiner Geißler konnte prominente Mitstreiter in der CDU gewinnen, wovon vor allem Lothar Späth, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf zu nennen sind. Die Strategie dieser "Verschwörer" sah vor, beim Parteitag den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zum CDU-Vorsitzenden küren zu lassen und diesen bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 1990 als Bundeskanzlerkandidaten aufzustellen. Die Ära Kohl wäre dann, nach damals weit verbreiteter Meinung, zu Ende gewesen.


Helmut Kohl blieb die Hetzjagd seines (Noch-)Generalsekretärs gegen ihn nicht verborgen. Der Kanzler brauchte dringend Erfolge, um die Delegierten beim Parteitag auf seine Seite zu ziehen. Und das Glück kam ihm entgegen. Der Bundeskanzler erfuhr, über vertrauliche Kanäle, dass der ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth demnächst vorhatte, die Grenzen seines Ostblocklandes gegenüber dem westlichen Österreich zu öffnen. Kohl konnte Nemeth - unter Zusage einiger Kredite - bewegen, diesen Grenzzaun exakt einen Tag vor dem Bremer Parteitag unter großer Medienbeteiligung aufzuschneiden. Damit war ein weltweites Signal zum künftigen Abbau des Eisernen Vorhangs gegeben.


Es kam, wie es kommen musste. Kohl nutzte dieses Großereignis beim Parteitag als Beweis für die Richtigkeit seiner bisherigen Politik. Er hielt - trotz heftiger akuter Prostataschmerzen - eine seiner bislang besten Reden und konnte damit die Delegierten auf seine Seite ziehen. Sie wählten, ohne zu zögern, Volker Rühe zum Nachfolger von Geißler als Generalsekretär und gingen sogar so weit, dass sie Lothar Späth zur Strafe aus dem Parteipräsidium kippten. Die übrigen der oben genannten Parteirivalen wurden ebenfalls heftig sanktioniert. Endgültig aus dem Rennen war Lothar Späth, als ihm 1991 nachgewiesen werden konnte, dass er auf Kosten von Industriefirmen auf der Ägäis herumschipperte ("Traumschiff"-Affäre), was ihm sogar den Posten des Ministerpräsidenten kostete. Helmut Kohl war wieder obenauf und wäre, auch ohne Wiedervereinigung, 1990 zum Kanzlerkandidaten aufgestellt worden.


Die Väter der Wiedervereinigung


Mit der Wiedervereinigung wurde in wenigen Monaten eine Aufgabe gelöst, von der man jahrzehntelang sagte, dass sie zu den kompliziertesten Problemen der Weltpolitik gehören würde. Wer waren die "Väter" (bzw. die "Mütter") der deutschen Wiedervereinigung? Nun, sicherlich nicht die Regierungschefs unserer Nachbarländer Frankreich und Großbritannien. Mitterand ließ in französischer Finesse und mit beträchtlichem Zynismus verlauten: "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei als eines davon habe". Und von der Lady Margret Thatcher, die 1989 schon nicht mehr ganz gesund war und bei Konferenzen häufig einnickte, konnte man hören: "Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen und jetzt sind sie schon wieder da". Auch Uwe Ronneburger, FDP-Abgeordneter und Genschers Intimfeind, gehörte nicht zu den Befürwortern der Wiedervereinigung. Er konnte sich nicht entblöden, Ende 1989 nach Moskau zu reisen um dort gegen den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten zu intrigieren.


Auf deutscher Seite gehört der Ehrentitel "Vater der Wiedervereinigung" ohne Zweifel Helmut Kohl. Er hat, beginnend mit seinem 10-Punkte-Programm am 28 November 1989, bis zur formalen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 - also in weniger als einem (!) Jahr - praktisch alles richtig gemacht. Und das Tempo war notwendig, denn schon 1991 änderte sich die internationale politische Szene total mit dem Golfkrieg, der Absetzung von Gorbatschow und dem Aufkommen von Boris Jelzin - und zwar zu Ungunsten von Deutschland. Wichtig war in diesen ereignisreichen Monaten, dass der amerikanischen Präsident George Bush (und sein Außenminister James Baker) politischen Flankenschutz gewährte.


Die überragende Persönlichkeit war zu jener Zeit jedoch der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Er hatte die Kraft, das System, in dem er groß geworden war, in Frage zu stellen und seine Schwächen zu erkennen. Es ist tragisch, aber ungerecht, dass ihn seine politischen Gegner zum Totengräber der UdSSR stempeln wollen. Nicht zu übersehen war allerdings der damalige wirtschaftliche Bankrott der Sowjetunion, den Kohl mit 20 Milliarden DM zu lindern versuchte. (Vermutlich hätte er für die DDR auch 100 Milliarden bezahlt).


Und wie ist der Stellenwert der Bürgerbewegung um Thierse & Co, die in Ostdeutschland zu jener Zeit auf die Straße gingen mit dem Ruf: "Wir sind das Volk". Nun, sie waren sicherlich ein bedeutsames Rädchen in diesem großen politischen Getriebe. Aber wenn Gorbatschow, nach dem Fall der Mauer, seine Panzer am Checkpoint Charlie hätte auffahren lassen, dann hätten die Hardliner in Ostberlin die Grenzübergänge sicherlich ganz schnell wieder geschlossen und die allermeisten Ostbürger wären in ihre DDR zurückgekehrt.



Sonntag, 1. November 2015

KIT überflüssig? Tut´s JARA auch?

Kooperationen zwischen benachbarten Forschungseinrichtungen und Universitäten sind weit verbreitet. Insbesondere das Krebsforschungszentrum Heidelberg, das Forschungszentrum Jülich und das Forschungszentrum Karlsruhe-Leopoldshafen haben in der Vergangenheit eine enge Zusammenarbeit mit den nahen Universitäten Heidelberg, Aachen und Karlsruhe gepflegt. Unterschiedlich ist Zahl und Umfang der gemeinsamen Projekte, sowie die organisatorische und juristische Verknüpfung der beiden Kooperationspartner. Zwei dieser Forschungsverbünde in Karlsruhe und Jülich bestehen inzwischen knapp zehn Jahre. Über die darin gemachten Erfahrungen wird in diesem Blog berichtet.

Den engstmöglichen Zusammenschluss hat man im Jahr 2006 in Karlsruhe gewählt. Die Chefs des ehemaligen Kernforschungszentrum in Leopoldshafen und der Technischen Universität Karlsruhe beschlossen damals, sich zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu vereinigen. Dazu musste eine neue juristische Form gefunden werden und der Landtag in Stuttgart war sogar genötigt, ein eigenes KIT-Gesetz zu verabschieden. Bei der Wahl des Namens orientierte man sich (unter Ignorierung falscher Bescheidenheit) am altehrwürdigen Bostoner MIT, einer Institution, die inzwischen mehr als 80 Nobelpreisträger vorzuweisen hat.

Weitaus moderater betreibt man die Zusammenarbeit in Nordrhein-Westfalen. Die dortige Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) mit 42.000 Studenten (gegenüber ca. 24.000 in Karlsruhe) beschloss im Jahr 2007 mit dem benachbarten Forschungszentrum Jülich zusammenzuarbeiten, das mit 5.500 Beschäftigten ebenfalls größer als der korrespondierende Karlsruher Partner ist (mit ca. 4000). Der daraus erwachsende Forschungsverbund bekam den Namen "Jülich Aachen Research Alliance", abgekürzt JARA. Im Gegensatz zu KIT ist JARA keine eigenständige juristische Person. Seine Aufgabe ist es, die jeweiligen kooperationswilligen Partner thematisch zu bündeln, zu finanzieren und zu überwachen, wie das etwa die Projektleitungen bei Großprojekten seit Jahr und Tag erledigen.

Erfahrungen mit JARA

Die Zusammenarbeit zwischen dem Forschungszentrum Jülich und der RWTH Aachen vollzieht sich in sogenannten Sektionen. Die Sektion "JARA-Brain", beispielsweise, deckt das Gebiet der Hirnforschung und der Neurowissenschaften ab. JARA-Energy bündelt die Forschung zum Themenkomplex nachhaltige Energie. JARA-FIT ist zuständig für den Bereich Informationstechnologien , JARA-HPC für Hochleistungsrechner und JARA-FAME für die Kern- und Teilchenphysik. Als sechste Sektion wurde im Dezember 2014 JARA-Soft gegründet, welche sich mit der Erforschung "weicher Materie" befasst, wozu auch die Polymere zählen.

Auch die Anzahl der Industriekooperationen ist beeindruckend. Im Jahr 2014 zählte man 250 Zusammenarbeiten mit deutschen Industriefirmen und darüber hinaus weitere 89 im internationalen Bereich. Einige Projekte seien stellvertretend dafür aufgezählt: die Lebensdauermodellierung von Flugtriebwerksschaufeln, die Entwicklung von Wärmedämmschichten, die Auswertung von Fotovoltaikfolien, die klinische Untersuchung von neuen Arzneimitteln u.a.m. Zu den Industriepartnern zählen renommierte Firmen wie: Siemens, Bayer, MAN, Plansee, Kawasaki, Sulzer, Grünenthal u. a. m.

Das Budget für JARA beträgt 500 Millionen Euro, wofür 60 Mio für Investitionen zur Verfügung stehen. 13,6 Mio entstammen der Exzellenzinitiative. Seit 2007 kam es im Bereich JARA zu 47 gemeinsamen Berufungen der beiden Partner. Im Jahr 2014 wurden 919 gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten publiziert.

Erfahrungen bei KIT

Demgegenüber scheint das KIT von beträchtlichen Geldsorgen geplagt zu sein. "Wir können keine großen Sprünge machen", bekannte der Finanzchef Ulrich Breuer vor kurzem in der regionalen Zeitung BNN. Aber man brauche ja nicht unbedingt frisches Geld, um mehr Wissenschaftler für die Lehre zu gewinnen. "Wir sind nicht nur eine Universität, sondern haben auch einen Großforschungsbereich, den wir mehr und mehr in die Lehre integrieren wollen", sagte Breuer mit Blick auf das frühere Forschungszentrum in Leopoldshafen. In den zurück liegenden zwei Jahren sei die Zahl der dortigen Wissenschaftler - die auch an der Universität lehren - deutlich gestiegen. Aber: "Wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstange". Das klingt, als sei das Forschungszentrum zum "Anhängsel der Uni" geworden. Und im Hinblick auf die vielen Diplom- und Doktorarbeiten, welche von der Uni (preiswert!) ans FZK ausgelagert werden, kann man in Bezug auf das Forschungszentrum sogar von einer "verlängerten Werkbank der Uni" sprechen.

Die ständige Geldnot am KIT hat direkte negative Auswirkungen auf die Anzahl der Großprojekte und ihre Abwicklung. Beispielhaft dafür ist die Synchrotronstrahlenquelle ANKA, wie in der Hausszeitschrift KIT-Dialog zu lesen ist. Die Quelle stand anfangs auch externen Nutzern, insbesondere aus der Industrie zur Verfügung. Dafür wurde sogar ein schmuckes Gästehaus für einige hunderttausend Euro errichtet. Nun ist die ANKA "herabgestuft" worden und soll nur noch für die heimischen Forscher betrieben werden. Sogar einige Strahlrohre samt Versuchseinrichtungen will man an (frühere) Wettbewerber verkaufen. Darüber hinaus drücken ANKA beträchtliche Altschulden für welches das betreibende Institut zur Hälfte aufkommen soll. Kein Wunder, das die KIT-Forscher an der ANKA total frustriert sind.

Aber auch andere Großprojekte kommen nicht in die Gänge, sondern leiden unter Terminverzögerungen bis zu einem Jahrzehnt (!). Zu nennen ist die bioliq-Anlage, bei der man mittels Pyrolyse Benzin aus Stroh produzieren will, sowie der Großversuch Katrin, an dem die Masse des Neutrinos gemessen werden soll. Bei bioliq ist es äußerst fraglich, ob das Verfahren die Grenze der Wirtschaftlichkeit erreichen wird. Außerdem ist die preisgünstige Beschaffung von Abfallstroh angesichts der Konkurrenz der Biogasanlagen ein großes logistisches Problem. Die kernphysikalische Anlage Katrin wird wohl erst im nächsten Jahrzehnt Ergebnisse zeitigen. Spannend dürfte dann sein, ob es gelingt die absolute Masse zu bestimmen, oder ob nur die relative Massenbestimmung zustande kommt im Sinne von kleiner bzw. größer als... Letzteres wäre hochbedauerlich und dem hohen finanziellen Aufwand nicht angemessen.

Schlussendlich noch einige Fakten:

Die RWTH erhielt 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative den Status "Elite-Universität". Beim erneuten Wettbewerb im Jahr 2012 wurde ihr dieser Titel wiederum zuerkannt. Die Technische Universität Karlsruhe errang im Jahr 2007 ebenfalls den Titel Elite-Universität, verlor ihn aber 2012 wieder.

Das Forschungszentrum Jülich hat seit 2007 einen Nobelpreisträger in Physik vorzuweisen: Professor Peter Grünberg.

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