Sonntag, 7. Februar 2016

Die Völkerwanderung und der Untergang des Römischen Weltreiches

Die renommierte Schweizer Zeitung "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) brachte am 31. Januar 2016 auf Seite 24 einen bemerkenswerten Artikel unter dem Titel "Zuwanderer brachten den Untergang". Die Redaktion leitete ihn mit folgenden Sätzen ein:
Schon vor 1600 Jahren kam es in Europa zu großen Flüchtlingsströmen. Das damalige Römische Reich war Fremden wohlgesinnt und nahm die Migranten auf. Doch deren Zahl war zu hoch. Sie ließen sich nicht integrieren.Schließlich übernahmen die Zuwanderer die Macht.
Im Rahmen dieses Blogs werden - in leicht gekürzter und editierter Form - die Hauptteile des NZZ-Artikels übernommen. Auf den Autor Alexander Demandt, einen deutschen Geschichtsprofessor, wird zum Schluss hingewiesen.

Der Einbruch der Goten

Aus der Provinz Moesia, nahe der Donaumündung, erschien im Frühling 376 n. Chr. eine Gesandtschaft der Westgoten am römischen Kaiserhof in Antiochia. Sie berichteten, aus Innerasien sei ein wildes Reitervolk, die Hunnen, erschienen, habe die Ostgoten nördlich des Schwarzen Meeres besiegt und den Westgoten ein gleiches Schicksal angedroht. Diese seien geflohen, stünden jetzt am Nordufer der Donau und bäten um Aufnahme in das Römische Reich.-- Im Kronrat zu Antiochia wurden zwar Bedenken laut, aber die Fürsprecher setzten sich durch. Das Reich konnte Zuwanderer als Siedler, Steuerzahler und Söldner brauchen; zudem habe der Kaiser die Pflicht, in christlicher Nächstenliebe, für die Flüchtlinge zu sorgen. Die Grenzen wurden geöffnet und die Goten kamen. Der römische Statthalter in Antiochia versuchte zwar die Ankömmlinge zu zählen, aber die Aktion geriet außer Kontrolle. Tag für Tag pendelten die Fähren über den Donaufluss, der Zeitgenosse Marcellius schreibt: "zahllos wie die Funken des Ätna".

Sehr bald gab es Versorgungsprobleme und die römischen Geschäftsleute verlangten überhöhte Preise. Die Goten begannen zu plündern und erhielten Verstärkung aus den römischen Bergwerken, wo viele germanische Gefangenen schufteten. Bald kam es zu Kämpfen, die Grenztruppen wurden geschlagen und der Kaiser in Rom musste um Hilfe gebeten werden.-- Kaiser Valens erschien mit dem Reichsheer des Ostens. Am 9. August 378 kam es bei Adrianopel, dem heutigen türkischen Edirne, zur Schlacht. Das römische Heer wurde von den Germanen und den eingewanderten Goten zusammen geschlagen; der Kaiser fiel. Sein Nachfolger Theodosius musste den Fremden 382 Land anweisen, wo sie nach eigenem Recht lebten. Die Donaugrenze blieb offen und immer neue Scharen drangen in das Reich. Im Jahr 406 war die Reichsgrenze nicht mehr zu halten: die Völkerwanderung war im Gange. Sie endete erst mit dem Einbruch der Langobarden in Italien im Jahr 568.

Römische Migrationspolitik im historischen Rückblick

Die Aufnahme der gotischen Flüchtlinge um 376 war politisch nichts Neues. Rom war immer fremdenfreundlich. Schließlich war nach der Überlieferung schon Äneas, der Stammvater, selbst ein Zuwanderer aus Troja gewesen. Als Romulus die Stadt gründete, eröffnete er auf dem Palatin ein Asyl, bevölkerte es mit Asylsuchenden und machte diese zu Römern. Es war ein Grundsatz römischer Politik, jeden, der tüchtig war, aufzunehmen. Zu denen zählte unter anderem auch das große, hochberühmte Patriziergeschlecht der Claudier, aus dem später vier Kaiser hervorgingen. Einer von ihnen, Kaiser Claudius, hat unter Hinweis darauf den Galliern das volle Bürgerrecht verliehen.

Die regionale Ausdehnung des Römerreichs brachte es mit sich, dass die Römer keine ethnische Nation, sondern eine Rechtsgemeinschaft waren, verbunden durch Kaiser, Heer, Verwaltung, durch die Sprache und eine hochentwickelte Zivilisation. Die Wirtschaft blühte auf, erregte aber nun auch die Begehrlichkeit der Barbaren jenseits der Grenzen, vor allem der Germanen. Diese waren arm, kinderreich, kriegerisch und wanderfreudig und strebten ins Imperium, wo Land und Beute lockten. Das begann schon um 100 v. Chr. mit den Cimbern und Teutonen, welche mit Weib und Kind von der Nordsee loszogen und nur mit Mühe abzuwehren waren.

Seit Cäsar schwankte die Germanenpolitik zwischen Abwehr und Aufnahme, der Bevölkerungsdruck aus dem Norden war ein Dauerthema. Cäsar vertrieb den nach Gallien eingedrungenen Suebenkönig Ariovist, heuerte aber germanische Reiter für seine Hilfstruppen an. Unter Augustus kam es zur ersten Übernahme ganzer Stämme. Die Kaiser bis zu Nero hielten sich sogar eine germanische Leibwache. Weitere Ansiedlungen folgten, unter Tiberius vierzigtausend, unter Nero angeblich hunderttausend. Das setzte sich fort; die Neulinge erhielten Land und lebten als Bauern. Durch den Handel mit den Städten und durch den Kriegsdienst lernten sie Latein, vermischten sich mit den Bewohnern der römischen Provinzen, verehrten die gleichen Götter wie sie und waren in der zweiten Generation integriert, Mit der Constitutio Antoniniana 212 erhielten sie das römische Bürgerrecht.

Die Einbürgerung der Germanen minderte den Bevölkerungsdruck auf die Grenzen, konnte ihn aber nicht verhindern. Immer wieder kam es zu Einfällen. Der Plan, Germanien bis zur Elbe zu unterwerfen, scheiterte im Teutoburger Wald. Kaiser Domitian sah sich um 80 n. Chr. genötigt, den Limes zu errichten, eine Militärgrenze gegen das unkontrollierte Eindringen der Fremden. Ganz zu verhindern war es jedoch nicht. Die Plünderungen gingen immer wieder los und wurden bedrohlich, als sich im 3. Jahrhundert die Großstämme der Alamannen, Franken und Sachsen bildeten, den Limes durchbrachen und Gallien sowie Italien heimsuchten. Im Osten besiegten die Goten sogar den Kaiser Decius. Kriegstechnisch waren die Römer immer überlegen, aber durch den Söldnerdienst und den Zugriff auf römische Waffen waren die Germanen nun auf dem gleichen Niveau. Sie modernisierten ihr Kriegswesen gewissermaßen mit römischer Entwicklungshilfe.

Bärte, Pelze, lange Hosen

Die Römer versuchten, das Problem mit den Fremden schlitzohrig zu lösen, indem sie, nach altbewährter Manier, Germanen gegen Germanen einsetzten. Das machte keine Schwierigkeiten, denn bei den Stammesfehden in Germanien kämpften ohnehin stets Germanen gegen Germanen. Die römischen Provinzbewohner, bei denen Kriegsdienst höchst unbeliebt war, konnten sich so der Produktion widmen. Und die Germanen, die lieber Blut als Schweiß vergossen, dienten und verdienten im Heer. So rückten germanische Krieger in Kommandostellen auf. Unter Constantin finden wir die ersten germanischen Heermeister im Generalsrang. Auf der Führungsebene kam es zu Verschwägerungen, sogar mit dem Kaiserhaus. Es entstand eine römisch-germanische Militäraristokratie, ein genealogisches Netzwerk von Verbindungen, durch die alle Entscheidungsträger irgendwie miteinander versippt waren. Während der letzten hundert Jahre des Gesamtreiches lag die politische Führung bei Germanen wie Merobaudes, Bauto, Stilicho, Rikimer und Gundobad. Die Kaiser in ihren beheizten Palästen in Ravenna, Rom und Konstantinopel verloren die Verbindung zur Armee und damit ihre Macht.

Man müsste annehmen, dass die Einbürgerung der Fremden zu einer Integration geführt hätte. Aber je mehr Germanen kamen und je höhere Posten sie errangen, desto schwieriger wurde es. Neid und Ressentiments kamen auf. Die bärtigen Germanen in ihren langen Hosen und Pelzen wurden das Odium des Barbarentums nicht los. Ihr Aussehen grenzte sie als Fremde aus und ihr Bekenntnis zur christlichen Lehre des Arianismus galt als Ketzerei. Gesetze gegen Mischehen, fremde Tracht und falschen Glauben zeigen die Stimmung. Fremdenfeindliche Literatur, Massaker und Mordaktionen richteten sich gegen die Germanen, die man nicht mehr los wurde und auf die man auch nicht verzichten konnte. Denn sie stellten die besten Kontingente. Die Regierung verlor die Kontrolle über die Provinzen, das staatliche Waffenmonopol war nicht mehr aufrecht zu halten. Unzählige Verordnungen ergingen, aber sie wurden nicht ausgeführt; die Exekutive versagte, die überkomplizierte Bürokratie brach zusammen.

Zum Ende übernahmen die Sachsen Britannien, die Franken Gallien und die Alamannen Obergermanien. Italien wurde von den Ostgoten, Spanien von den Westgoten, Nordafrika von den Vandalen besetzt. Auf dem Balkan herrschte Turbulenz, der Osten war durch Glaubenskämpfe zerrissen. Die Provinzbewohner, überall in der großen Mehrheit, waren politisch handlungsunfähig, im langen Frieden gewöhnt, regiert und geschützt zu werden.

Im Wohlstand bequem geworden

Jetzt in der Not ersetzte die Kirche den Staat, die Klöster bewahrten die Reste des Bildungsgutes. Die Städte, in denen die Grundbesitzer wohnten, verarmten. Das kulturtragende Bürgertum verschwand; die Germanen interessierten sich mehr für Waffen als für Bücher. Die Verkehrswege waren nicht mehr sicher, der für den Wohlstand wichtige Fernhandel erlahmte. Naturalwirtschaft machte sich breit. Die Wasserleitungen zerfielen, die Bäder konnten nicht mehr beheizt werden, über den Rhein gab es nur noch Fähren.

Es ist eine alte Frage, weshalb die reiche, hochentwickelte römische Zivilisation dem Druck armer, barbarischer Nachbarn nicht standgehalten hat. Man liest von Dekadenz, von einer im Wohlstand bequem gewordenen Gesellschaft, die das süße Leben des Einzelnen erstrebte, aber den vitalen Germanenhorden nichts entgegenzusetzen hatte, als diese, von der Not getrieben, über die Grenzen strömten. Überschaubare Zahlen von Zuwanderern hätten sich integrieren lassen. Sobald diese eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge. Die alte Ordnung löste sich einfach auf.


Der Autor Alexander Demandt (78)

Der Althistoriker Alexander Demandt lehrte als Professor an der Freien Universität Berlin. Den obigen Text schrieb er im Auftrag des Magazins "Die politische Meinung" der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nach der Sylvesternacht von Köln lehnte die Redaktion den Text aber ab. Wie es in der Begründung heißt, bestehe die Gefahr, "dass Textstellen missbräuchlich herangezogen werden könnten, um allzu einfache Parallelitäten zur aktuellen Lage zu konstruieren."

2 Kommentare:

  1. §5 Kölsches Jrundjesetz :
    ET BLIEV NIX WIE ET WOR.

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  2. Es gibt noch eine Völkerwanderung im siebten Jahrhundert, als es den Slawen, die im Norden lebten zu kalt wurde und sie entschieden in den Süden zu wandern. Jetzt leben sie an der Adria und brauchen keine lange Unterhosen mehr.
    Grus Drazen

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