Sonntag, 7. Mai 2017

KIT - publish or perish ?

Beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) köchelt es. Das Problem steht im Zusammenhang mit der Vergabe des sogenannten Leibniz-Preises an eine Institutschefin. Der Leibnizpreis ist ein Förderpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), benannt nach dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716). Das Preisgeld von bis zu 2,5 Millionen Euro darf sieben Jahre lang nach Vorstellungen der Preisträger und ohne bürokratischen Aufwand für eigene Forschungsarbeiten verwendet werden - im Gegensatz zum Nobelpreis, dessen Summe bei nur ca. 1 Million Euro liegt, die allerdings voll für private Zwecke zur Verfügung steht. Bislang wurde der Leibnizpreis - zum Teil geteilt - an 48 Wissenschaftlerinnen und 326 Wissenschaftler vergeben. Gefördert wurden damit 115 mal die Naturwissenschaften, 101 mal die Sozial-und Geisteswissenschaften und 53 mal die Ingenieurwissenschaften.

Diesmal sollte der Preis - zum 7. Mal - an eine Wissenschaftlerin des KIT gehen. Geehrt werden sollte damit die Materialwissenschaftlerin Frau Professor Dr. Britta Nestler, Direktorin am Institut für Angewandte Materialien - Computational Material Science (IAM-CMS). Die Verleihung des Preises stand für Mittwoch am 15. März um 15 Uhr an - aber wenige Stunden vorher sagten die Verantwortlichen des DFG die Preisvergabe an Frau Nestler ab. Begründet wurde dies mit "anonymen Hinweisen" in Bezug auf ihre Forschungsarbeiten, welche auf Umwegen zum DFG gelangt seien. Seitdem werden diese Vorwürfe vom einem Expertengremium geprüft. Das Ergebnis ist bislang (2. Mai 15 Uhr) offen.

Frau Professor Nestler hat Mathematik und Physik studiert und ist seit dem Jahr 2010 in der o. g. Position beim KIT tätig. Seitdem hat sie ca. hundert wissenschaftliche Arbeiten - also im Schnitt eine Publikation pro Monat -  vorwiegend auf dem Gebiet der computergestützten Materialmodellierung (meist zusammen mit Ko-Autoren) veröffentlicht. Der Präsident des KIT, Professor Holger Hanselka, bezeichnet sie auf der Website des KIT als "Top-Wissenschaftlerin in ihrem Fachgebiet". Im Internet kann man nachlesen, dass Frau Nestler diese beträchtliche wissenschaftliche Arbeit zusätzlich zu ihren Verpflichtungen als 44-jährige ledige Mutter von 4 Kindern schafft.

Die graue Vorzeit

Die "Causa Nestler" ist bisher nur aus den Medien bekannt und kann deshalb erst endgültig bewertet werden, wenn das Votum des Gutachtergremiums vorliegt. Dessen ungeachtet drängt sich dem aufmerksamen Beobachter heutzutage der Eindruck auf, dass der puren Anzahl von Veröffentlichungen manchmal ein zu großer Wert beigemessen wird. Das war früher, etwa in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, deutlich anders.

Es war die Zeit, als ich in München am kernphysikalischen Institut von Professor Heinz Maier-Leibnitz in Physik promovierte. Dort (und an der dazugehörigen Reaktorstation Garching) schrieben die Assistenten und akademischen Mitarbeiter eine bis (maximal) zwei Veröffentlichungen pro Jahr. Manchmal auch weniger, wenn der Aufbau einer komplexen Versuchsanlage länger dauerte. Und ML, wie wir unseren Chef Maier-Leibnitz kurz benannten, fand das ganz in Ordnung. Er legte aber Wert darauf, dass nur die wirklichen Bearbeiter eines Themas als Autoren genannt wurden; sogenannte "multi-people-papers" gab es nicht. Das hatte für mich die Konsequenz, dass ich meine Doktorarbeit unter meinem - und nur meinem - Namen veröffentlichen durfte. Daraus erwuchs mir kein Nachteil, denn kurz darauf bekam ich eine der damals begehrten Post-Doc-Stellen in den USA.

Viel bekannter wurde ein Kollege, der im Labor nebenan promovierte und mit dem ich mir die damals wertvollen Messgeräte, wie den Tectronix-Oszillografen, teilte: Rudolf Mößbauer. Er hatte von Maier-Leibnitz als Doktorthema die Messung der Kernresonanz-Fluoreszenz erhalten und entdeckte im Verlauf seiner Experimente die Resonanzabsorption an Iridium 191. Damit erschloss er den Naturwissenschaften ein völlig neues Gebiet, nämlich die sogenannte Mößbauer-Spektroskopie. Sie erlaubt es, kleinste Änderungen und Aufspaltungen der Gammastrahlen zu messen.  Mößbauer durfte seine Ergebnisse allein unter seinem Namen in einem (deutschen) Journal veröffentlichen. Im Jahr 1961 erhielt er dafür den Nobelpreis für Physik.

Dass Maier-Leibnitz bei dieser Ehrung leer ausging, machte viele in seinem Institut betroffen. Später wurde bekannt, dass das Nobelkommittee in Stockholm ML durchaus als weiteren Preisträger vorgesehen hatte. (Drei Preisträger sind nach den Statuten möglich). Aber Maier-Leibnitz verzichtete freiwillig auf den Nobelpreis, obwohl Professor Waller, ein Abgesandter aus Stockholm, ML am Rande einer Konferenz in Paris eindringlich zuredete. Mößbauer, ein besessener Forscher, mit zuweilen genialischen Zügen - aber auch leichten charakterlichen Defiziten - verlieh diesem Festkörpereffekt seinen Namen und wurde dadurch weltberühmt.

Sein  Altruismus wurde Maier-Leibnitz wenig gedankt. Beim 75. Geburtstag im April 1986 war Rudolf Mößbauer als Festredner in die Münchener Universität geladen. Der ehemalige Doktorand von Maier-Leibnitz nutzte fast die gesamte Redezeit um nur seinen eigenen Beitrag zur Nobelarbeit herauszustellen. Die Verdienste seines Doktorvaters bei der Betreuung unterdrückte er nahezu total.  Das geladene hochrangige Publikum war entsetzt.

Die rekordsüchtige  Gegenwart

Die stilistische Hyperbel "publish or perish" kommt aus dem amerikanischen Wissenschaftsbetrieb und ist an den dortigen Universitäten eine gängige Redewendung. Bei Vertragsverhandlungen mit den Hochschulpräsidenten um "Tenure-Track-Positionen", also um die begehrten Lebenszeit-Professuren, ist die schlichte Anzahl der eigenen Publikationen ein gewichtiges Argument. Auch in Deutschland hängt die Verlängerung der häufig befristeten Personalstellen nicht selten am (veröffentlichten) Forschungserfolg. Motto: "Wer schreibt, der bleibt".

Dagegen versucht die Deutsche Forschungsgemeinschaft als wichtiger Drittmittel-Sponsor anzukämpfen. In ihrer Empfehlung aus dem Jahr 1998 zur "Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" hat sie alle Forscher daran erinnert, dass "Originalität und Qualität den Vorrang vor Quantität" habe. Diesen Aufruf verknüpfte sie mit der Empfehlung, bei Projektanträgen nur noch maximal 5 Titel aus der Publikationsliste auszuwählen. Die Forscher-Community umging dieses Verlangen durch die Einführung der "Ehrenautorschaft". Damit waren jene Autoren gemeint, welche zur Bereitstellung der Fördermittel beigetragen haben, also in der Regel die Institutsleiter.

Auch die wissenschaftlichen Verlage fühlten sich durch die schiere Menge der eingehenden Manuskripte überrollt. Sie verlangten die sogenannte "Peer-Review" als Verfahren zur Qualitätssicherung. Unabhängige Gutachter aus dem gleichen oder benachbartem Fachgebiet sollen die zur Veröffentlichung eingereichten Papers auf ihren wissenschaftlichen Wert hin überprüfen. Doch auch dieses Verfahren birgt seine Probleme. So dauert es häufig Monate, ja Jahre, bis ein Fachartikel erscheinen kann. Und die "Peers" können durch abwertende Gutachten das Eindringen von Konkurrenten in ihre "Forschungsnische" verhindern.

Durch den "Impact-Faktor" versucht man bei veröffentlichten Arbeiten im Nachhinein die Qualität festzustellen. Dabei gibt dieser Faktor an, wie häufig im Durchschnitt ein veröffentlichter Artikel in einem anderen Artikel zitiert wird. Doch auch hier sind Manipulationen möglich. Etwa dadurch, dass manche Zeitschriften ihre Autoren dazu anhalten, die eigenen Publikationen bevorzugt in ihre Referenzen aufzunehmen.

Schließlich gibt es auch in der Wissenschaft das weite Feld von Fälschung und Betrug. Insbesondere bei Doktorarbeiten in den Geisteswissenschaften werden immer wieder Plagiate bekannt, ja sogar Arbeiten, die ausschließlich von "Ghostwritern" stammen. Selbst in den Naturwissenschaften gibt es Fälle von bewusster Manipulation durch "Schönung" von Ergebnissen über Weglassen abweichender Messwerte. In der angloamerikanischen Literatur verwendet man dafür das bezeichnende Wort "cooking".

Unübertroffen:  CERN

Ein "multi-people-paper", das den Weltrekord in Bezug auf die Anzahl der Autoren für sich beanspruchen kann, wurde vor ca. 2 Jahren beim Beschleunigerzentrum CERN in Genf verfasst. Im Rahmen eines Hochenergie-Teilchenversuchs beschlossen die beiden Experimentiergruppierungen ("Collaborationen")  ATLAS und CMS ihre Daten zusammen zu legen, wodurch die Masse des Higgs-Bosons auf +/- 0,25 % bestimmt werden konnte. Der Nobelpreis für die Vorhersage dieses Teilchens war bereits 2013 an den Namensgeber Peter Higgs und den Belgier Francois Englert gegangen.

Die Poolung der Messdaten von ATLAS und CMS war ein hochkomplexer Vorgang, denn jede der genannten Collaborationen bestand aus Dutzenden von Institutionen in vielen Ländern. Dementsprechend waren viele Wissenschaftler und Ingenieure an dem Gesamtunternehmen beteiligt. Bei der Veröffentlichung des gemeinsamen Papers in den Phys. Rev. Lett. 114 191803 (2015) beschloss man ein einzigartiges Verfahren:

Alle am Higgs-Experiment beteiligten Forscher - 5.154 Personen - wurden namentlich genannt. 

Die Publikation umfasste insgesamt 33 Seiten. Auf den ersten 9 Seiten wurden die Versuchsdaten und ihre Auswertung beschrieben. Danach folgte - auf 24 Seiten -  nur noch die Auflistung der verschiedenen internationalen Forschungsinstitutionen mit der alphabetischen und namentlichen Nennung sämtlicher beteiligter Wissenschaftler:

von Georges Aad bis Lukasz Zwalinski.



Der CERN- Beschleuniger LHC
mit den beiden Detektoren ATLAS und CMS


Eine Vorläuferpublikation zur Entdeckung des Higgsteilchens durch das ATLAS-Team wurde ebenfalls im Rahmen einer "hyperauthorship" beschrieben, wie die Amerikaner diese kollektiven Veröffentlichungen benennen. Damals, im Jahr 2012, waren 2.932 Forscher in der Zeitschrift Phys. Lett. B 716, 1-29 (2012) aufgelistet.

21 von ihnen waren während der langjährigen Versuchskampagne bereits verstorben.

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