Sonntag, 17. Oktober 2010

Hie Theoretiker, hie Experimentator

In der Physik gibt es zwei Sparten: die Theoretiker und die Experimentatoren. Ihr Ansehen innerhalb der Kollegenschaft und beim Publikum wechselte im Verlauf der Geschichte. Heute sind, insbesondere auf dem Gebiet der Astrophysik, die Theoretiker die Stars der Wissenschaft. Sie postulierten den Urknall und errechneten, wie sich unsere Welt innerhalb der ersten drei Minuten entwickelt hat. Der Schotte Peter Higgs legte auf nur zwei DIN A4-Seiten - allerdings gespickt mit komplizierten mathematischen Formeln - dar, dass es ein Kernteilchen geben müsse, welches den Sternen (und auch uns Menschen) ihre Masse verleiht. Die Beschleunigerwissenschaftler bei CERN in Genf nehmen Professor Higgs so ernst, dass sie zwei Milliarden Euro in die Suche des nach ihm benannten Teilchens investieren. Die String-Theoretiker behaupten gar, dass alle Atomteilchen aus winzigen schwingenden Saiten aufgebaut sind und dass es wahrscheinlich nicht nur ein einziges Universum - das unsrige - gibt, sondern deren fast unendlich viele, jedenfalls mehr als es Atome in unserer sichtbaren Welt gibt. Auch danach forscht man in Genf.

Unterschätzte Theoretiker

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, so zwischen 1900 und 1940, war das ganz anders. Die Physik galt als empirische Wissenschaft. "Anständige Physik" war - ausgesprochen oder unausgesprochen - immer experimentelle Physik. Wegen der hierarchischen Struktur bei den deutschen Universitäten verfügte der Ordinarius allein über die staatliche Instrumentensammlung an seinem Institut. Es war seiner Entscheidung überlassen, ob er den nachrückenden Dozenten die Mitbenutzung gestattete. Im allgemeinen hatte der "zweite Physiker" die Verpflichtung, die finanziell unattraktiven Spezialvorlesungen zu halten - und das waren meist die über theoretische Physik. Hier war die Hörerzahl geringer, weil der Stoff schwieriger war und hier konnte der Dozent ohne Instrumente auskommen. So gab es in Deutschland eine grosse Anzahl von theoretischen Physikern; viele von ihnen waren allerdings nur verhinderte Experimentalphysiker. Das Ansehen des Fachs war entsprechend gering.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einige theoretische Physiker auftauchten, die bis heute das Weltbild der modernen Physik bestimmen: Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg. Aber auch sie mussten um ihre Mittel (und ihren Lebensunterhalt) hart kämpfen.

Das von Max Planck geleitete "Institut für theoretische Physik" in Berlin bestand nur aus einer Bibliothek und einem Lesezimmer. Seiner Umgebung erschien es sonderbar, dass er die Natur lediglich mit Papier und Bleistift erforschen wollte und nicht mit Geräten und Experimenten. Manche Kollegen hielten ihn - nach Planck - für "ziemlich überflüssig". Doch das sollte sich ändern. Nach fünfjähriger Arbeit hatte er 1899 endlich die Formel für die Verteilung der Strahlungsenergie gefunden. In ihr traten gleich zwei Naturkonstanten auf, nämlich (nach heutiger Bezeichnung) das Plancksche Wirkungsquantum h und die Boltzmannsche Konstante k. Damit hatte er ganz allein die Grundlagen für die moderne Quantenphysik gelegt.

Albert Einstein, vielleicht der grösste theoretische Physiker aller Zeiten, musste sich jahrelang als "Experte III. Klasse" am Berner Patentamt durchschlagen. Er verdiente wenig. Im Leiterwägelchen holte er selbst Holz und Kohlen nach Hause; die Stumpen, die er rauchte, waren von der schlechtesten Sorte. Als er sich den Luxus einer Scheidung leistete, überschrieb er seiner Ex-Frau das Geld des Nobelpreises - den er noch gar nicht erhalten hatte. Sie machte trotzdem ein gutes Geschäft, denn 1921 wurde ihm tatsächlich der Nobelpreis für Physik verliehen. Allerdings nicht für seine beiden Relativitätstheorien, deretwegen er zwischenzeitlich berühmt geworden war, sondern für die Erklärung des photoelektrischen Effekts, also eines experimentellen Phänomens.

Überschätzte Praktiker

Die Koryphäe auf dem Gebiet der Experimentalphysik war in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Robert Wichard Pohl in Göttingen. Sein Leitspruch war: "Theorien kommen und gehen, Tatsachen bleiben". Die Theorie in der Physik war für Pohl immer nur die "Notenschrift" für die "Musik der Tatsachen". Eine andere seiner Devisen war die Forderung: "Messen, was messbar ist; was nicht messbar ist, messbar machen!" Die Schüler seiner Theoriekollegen hatten bei ihm nichts zu lachen. Max Dellbrück, einen Diplomkandidaten bei Max Born, liess er bei der Prüfung in Experimentalphysik durchfallen. Und bei Herta Sponer, der ersten Frau, welche in Göttingen habilitierte hatte, betrieb er sogar die Entlassung, was zu einem schweren Bruch zwischen Pohl und James Franck führte, der ihre Habilitation angenommen hatte.


Professor Pohl demonstriert mittels Schattenrissprojektion

Pohls experimenteller Vorlesungsstil, ohne festes Lehrpult, mit vielen Versuchen im projizierten Schattenriss war lange Jahre richtungsweisend. Er fand seinen Niederschlag in Pohls Lehrbüchern für Experimentalphysik, die in vielen Auflagen erschienen sind und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sogar Witze wurden über seine Vorlesungen gerissen, wie etwa jener: "Ein Medizinstudent bei Pohl hätte auf die Frage nach dem elektrischen Kondensator so geantwortet: auf einer Dreikantschiene sitzen zwei Reiter, die vertikale Metallplatten tragen".

Die bleierne Zeit

Das Jahr 1933 bildete eine Zäsur nicht nur in der deutschen politischen Geschichte, sondern auch in der Physik. Fünf Nobelpreisträger dieser Fachrichtung ( u.a. Einstein, Born u. Franck) wurden vertrieben, weitere 150 hochkarätige Forscher verliessen das Land und erhielten zum Teil später den Nobelpreis in Amerika. Das goldene deutsche Zeitalter der Physik war zu Ende. Deutschland hat sich von diesem Verlust - bis heute - nicht erholt. Die Stellen der Emigranten wurden vielfach von Zweit- und Drittklassigen besetzt.

Die Unschärferelation Heisenbergs in eigenhändiger Aufzeichnung

Sehr verhängnisvoll wirkten sich die Eingriffe der Nazis bei der theoretischen Physik aus. Insbesondere die Quantenphysik wurde als "jüdisches, unfruchtbares Blendwerk" gegeisselt. Selbst Werner Heisenberg, der 1933 den Nobelpreis für seine sechs Jahre vorher entdeckte "Unschärferelation" erhalten hatte, blieb davon nicht verschont. Er wurde als "Ossietzky der Physik" und sogar als "weisser Jude" geschmäht. Als er 1937 zum Nachfolger von Arnold Sommerfeld auf den Lehrstuhl der theoretischen Physik an der Universität München vorgeschlagen wurde, blockte der "Reichsdozentenführer" seine Ernennung ab und bestellte einen gewissen Wilhelm Müller als Institutsleiter. Die Eingabe von Ludwig Prandtl beim "Reichsmarschall" war vergeblich. Schliesslich intervenierten der Chemiker und Industrielle Robert Bosch sowie Max Planck persönlich bei Hitler. Die Antwort des "Führers", die sie zum Verstummen brachte, lautete:

"Dann muss Deutschland eben für hundert Jahre ohne Physik und Chemie auskommen".

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