Sonntag, 7. November 2010

Deportiert in die Sowjetunion

Als die alliierten Truppen 1945 in Deutschland einrückten, befanden sich die meisten Laboranlagen für das Projekt "Uranmaschine" in der sog. Westzone; die Fabriken zur Herstellung des Urans waren jedoch in der "Ostzone", also im Einzugsbereich der Sowjets, lokalisiert. Wenige Tage vor Eintreffen der russischen Besatzungstruppen bombardierten die Amerikaner das in Oranienburg, nördlich von Berlin, gelegene Werk der Auergesellschaft, einer Tochterfirma der Degussa, und schlugen alles kurz und klein. Der Plan der Sowjets, diese Anlagen zum Aufbau eines eigenen Atomprogramms zu nutzen, war damit fürs erste verhindert. Der "Kalte Krieg" hatte begonnen.

In der Folge demontierten die Russen trotzdem alles, was von dem Werk übrig geblieben war. Alle Restmaterialien bis zur (buchstäblich) letzten Schraube wurden auf Eisenbahnwaggons verladen und in die UdSSR befördert. Zur gleichen Zeit wurden die Wissenschaftler, welche im Osten am deutschen Uranprogramm mitgewirkt hatten, ausfindig gemacht und in Berlin interniert. Dies waren u. a. Gustav Hertz, Manfred von Ardenne, Günther Wirths, K. G. Zimmer, H. J. Born und Nikolaus Riehl. Letzterer war den Besatzern besonders wichtig, denn der 38-jährige Riehl war der technische Direktor des Uranbetriebs bei der Auergesellschaft gewesen. . Er sprach perfekt russisch, weil er als Sohn eines deutschen Siemensdirektors und einer russischen Mutter die ersten 17 Jahre (bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution) in St. Petersburg verbracht hatte. Später studierte Riehl Physik in Berlin, wo er bei Otto Hahn promovierte und habilitierte. Er galt als einer der ersten Festkörperphysiker in Deutschland und hatte sich einen internationalen Ruf auf dem Gebiet der Lumineszenz und der Leuchtstoffröhren erworben.

Die genannten Wissenschaftler wurde neben Dutzenden weiterer - zusammen mit ihren Frauen und Kindern(!) - in die Sowjetunion deportiert und auf verschiedene Orte in diesem riesigen Land verteilt. Riehl und seine Kollegen waren in einer ehemaligen Munitionsfabrik 70 Kilometer östlich von Moskau untergebracht. Ihnen wurde unmissverständlich befohlen aus den Überbleibseln der Oranienburger Anlage auf dem schnellsten Weg eine Fabrik zur Gewinnung von Uranmetall und Uranoxid aufzubauen. In diesem jämmerlichen Provinzort namens Ferrostal - der aus Geheimschutzgründen auf keiner Landkarte verzeichnet war - standen sie während der folgenden fünf Jahre unter direkter Aufsicht des sowjetischen Atomministers Sawenjagin, welcher früher Stellvertreter des gefürchteten Geheimdienstchefs Beria war.


Nikolaus Riehl versucht sich als Reiter

Der Druck der Moskauer Politiker auf die deutschen Wissenschaftler war enorm. Sie sollten möglichst umgehend Uran im Tonnenmassstab produzieren, hatten aber angesichts der allseitigen Materialknappheit dafür nicht die notwendigen Ressourcen. Auf einen dringend benötigten Transformator zur Metallschmelze mussten sie beispielsweise acht Monate lang warten, da er 75 Kilogramm Kupfer enthielt, was damals ein sehr rares Element in der UdSSR war. Trotzdem ergaben sich in dieser Zwangslage immer wieder skurrile, ja humorvolle Situationen. Einige davon hat mir Nikolaus Riehl selbst erzählt, mit dem ich später in eine enge Verbindung kommen sollte.

Einmal besuchte der Atomminister Sawenjagin das primitive Laboratorium in der Munitionsfabrik. Er liess sich von dem russischen Laborpersonal, das ehrerbietig um ihn herum stand, erklären, woher die verschiedenen Geräte stammten. Auf alle seine Fragen erhielt er die Antwort, dass es sich um Kriegsbeute aus Deutschland handele. Als dann plötzlich eine Ratte vorbei huschte meinte er grimmig: "Die wird wohl von uns sein."

Sehr negativ wirkte sich auch die bürokratische sowjetische Planwirtschaft aus. Einmal bestellte Riehl zwei Kilogramm Kaliumpermanganat, das aber ewig nicht geliefert wurde. Als es schliesslich nach zwei oder drei Jahren ankam - und längst vergessen war - wurden statt der zwei Kilo zwei volle Güterwaggons dieser Chemikalie geliefert. Irgendjemand hatte in der Zwischenzeit, wohl versehentlich (und ohne nachzudenken), Planübererfüllung betrieben.

Als die Riehl-Gruppe dickwandige Vakuumgummischläuche benötigte musste sie sich hilfesuchend an Moskau wenden. Dort wurde ein Regierungsbeschluss(!) herbeigeführt und eine Fabrik, welche gewöhnlich Gummistiefel herstellte, mit der Produktion beauftragt. Das Ergebnis war von miserabler Qualität. Minister Sawenjagin war wütend und schickte den armen Direktor der Galoschenfabrik für fünf Jahre ins Gefängnis. Die deutsche Gruppe hatte Erbarmen mit ihm und übte daraufhin grösste Zurückhaltung bei Beschwerden.

Zweimal hatte Riehl persönlichen Kontakt mit dem allmächtigen KGB-Geheimdienstchef Beria., dem Organisator der gefürchteten Gulag-Arbeitsläger. Er war im persönlichen Umgang äusserst liebenswürdig; aber es ist wohlbekannt, dass Leute seines Schlags im privaten Verkehr sehr nett sein können. (Auch Himmler soll ein charmanter Gesellschafter gewesen sein.) Beria liess sich von Riehl den Stand der Arbeiten erklären und schien mit den Fortschritten zufrieden zu sein. Trotzdem hinterliess er einen schriftlichen Befehl, dass sich die Bewacher der Deutschen niemals mehr als eineinhalb Meter (!) von der zu begleitenden Person entfernen dürften. (Riehl waren tagsüber zwei und sogar noch nachts ein Bewacher zugeteilt). Übrigens: Beria wurde 1953, nach dem Ende der Stalin-Ära, urplötzlich als "Verräter der Sowjetunion" erkannt und standrechtlich erschossen.

Eine bedrohliche Situation entwickelte sich, als im produzierten Uran eines Tages eine zu hohe Konzentration an Bor festgestellt wurde. Das Element Bor ist bekanntlich der Feind Nr. 1 für die Verwendung im Reaktor. Die Moskauer Nomenklatura drohte der Gruppe bereits mit der Einlieferung in ein Arbeitslager, als schliesslich die Erklärung gefunden werden konnte: Bei der Demontage des Oranienburger Werkes hatten die Arbeiter selbst den Dreck auf dem Boden zusammen gekratzt, der aber mit Borsäure für die Leuchtstoffherstellung vermischt war. Nachdem man dieses Fremdmaterial aus dem Prozess entfernt hatte, verschwand auch das Borproblem und die Funktionäre beruhigten sich.

Im Jahr 1950, fünf Jahre seit der Deportation, war es so weit, dass die Fabrik pro Tag eine Tonne Uran abliefern konnte. Die Sowjets waren zufrieden und beauftragten eigene Wissenschaftler und Ingenieure mit dem weiteren Routinebetrieb. Über die Deutschen ergoss sich ein wahrer Ordens- und Prämiensegen, wo auf Riehl der grösste Anteil abfiel. Er bekam den "Stalinpreis", wurde "Held der sozialistischen Arbeit" und erhielt ausserdem den prestigeträchtigen "Leninorden". Darüberhinaus erhielt er eine "Datscha" geschenkt in einer hübschen bewaldeten Gegend westlich von Moskau, wo sich die Häuser der Regierungsmitglieder befanden.


Der Leninorden (links) und der Stalinpreis (als Briefmarke)

Diese Überhäufung mit Ehrungen und Gütern brachte das Ehepaar Riehl und seine beiden Töchter in arge Bedrängnis. Denn damit verbunden war der dringende Wunsch der russischen Seite, dass die Riehls für immer in der Sowjetunion bleiben sollten. Das kam für die Deutschen aber nicht in Frage. Sie machten deutlich, dass sie nach Deutschland - u. zw. nach Westdeutschland - zurückkehren wollten.

Die russischen "Gastgeber" waren verschnupft und konterten, indem sie Riehl (samt Familie) auf "Quarantäne" setzten. Sie mussten weitere fünf Jahre in der Sowjetunion bleiben, bevor sie ausreisen durften. Die ersten zwei Jahre verbrachten die Riehls mit den befreundeten Kollegen Zimmer, Born, Wirths und Katsch östlich des Urals, also in Sibirien, wo er Leiter eines Instituts für radioaktive Isotope wurde. Die folgenden drei Jahre "genoss" Riehl an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres; hier durfte er sich mit Festkörperphysik beschäftigen und konnte somit Themen ausserhalb der Geheimhaltung bearbeiten.

Schliesslich, im Jahr 1955, zehn Jahre nach der Deportation in die UdSSR, durfte Nikolaus Riehl mit seiner Familie ausreisen. Bei der Durchfahrt durch die DDR versuchte ihn Walter Ulbricht in einem persönlichen Gespräch noch einmal zum Bleiben zu überreden - aber vergeblich. (Manfred von Ardenne beschloss zu bleiben und wurde zu einen strammen Kommunisten.) Riehl aber war auf dem Weg nach München und niemand konnte ihn mehr aufhalten. Zwei Jahre darauf checkte er an der Technischen Hochschule als Professor für Festkörperphysik und Stellvertreter von Maier-Leibnitz ein.

Ich wurde sein erster Doktorand.

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