Sonntag, 29. Mai 2011

Tabus und Lücken in der Nuklearforschung

 Mit dem Bau von kommerziellen Kernkraftwerken begann man weltweit Ende der fünfziger Jahre, nachdem der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower bei der Genfer Atomkonferenz 1955 seine Nukleararchive für die friedliche Nutzung der Kernenergie öffnen liess. In Deutschland entstanden u.a. die Kleinkraftwerke VAK Kahl, MZFR Karlsruhe und KWL Lingen; in Japan baute die US-Firma General Electric (GE) dem Betreiber TEPCO  in den sechziger Jahren das schon beträchtlich grössere Siedewasserkernkraftwerk Fukushima 1- Mark 1. Die Sicherheitsphilosophie für diese wassergekühlten Anlagen war geprägt von den Vorgaben der Amerikaner und beruhte zum Teil auf den Erfahrungen mit den nuklear angetriebenen U-Booten des US-Admirals Rickover.

"Der Reaktortank platzt nicht"

Ein Kernkraftwerk besteht (neben viel Elektrik) im wesentlichen aus einer grossen Anzahl von Behältern und Rohrleitungen. All diesen Komponenten wurde zugestanden, dass sie im Betrieb kaputt gehen können - nur nicht dem Reaktortank. Im allgemeinen ist dies ein zylindrischer Behälter von zwölf Metern Länge, fünf Metern Durchmesser und einer Wandstärke von über hundert Millimetern. Es war quasi ein Axiom dieser frühen Jahre, dass ein solcher Tank, welcher die Brennelemente beinhaltet und unter einem Druck von 70 bis 150 Atmosphären steht, nicht spontan aufreissen durfte. Sein Versagen ist  - bis zum heutigen Tag - gewissermassen tabuisiert. Die Folgen wären nicht beherrschbar, denn die Trümmer würden den umgebenden Sicherheitsbehälter durchschlagen und und die Radioaktivität der Brennelemente  in die Umgebung freisetzen. Bei einem geplanten Kernkraftwerk in Ludwigshafen hat die deutsche Reaktorsicherheitskommission (RSK) später sogar einen sog. Berstschutz für den Reaktortank verlangt, worauf die BASF dankend auf dieses (teure) Projekt verzichtete.

In den siebziger Jahren kam die Tabuisierung des Reaktordruckbehälters (RDB) - so nannte man den Reaktortank fortan - zunehmend ins Visier der kritischen Wissenschaftler. Zu nennen ist besonders der Engländer Frank R. Farmer, der die Integrität des RDB skeptisch beurteilte, weil diese Komponente während des Betriebs durch die Neutronenbestrahlung zunehmend versprödet. Das war auch der Grund, weswegen die Briten so lange zögerten, den Druckwassereaktor in ihrem Land zuzulassen. Die wassergekühlten Reaktoren schienen ein ernstes Problem zu haben.

In der Folge wurden deshalb weltweit gigantische Forschungsprogramme aufgelegt, um die Sicherheit des Reaktordruckbehälters auch noch nach dreissig, vierzig oder gar fünfzig Jahren Laufzeit garantieren zu können. Es entstand ein völlig neues Forschungsgebiet: die Bruchmechanik. Der Zähbruch und der Sprödbruch wurden analysiert, dazu die Rissbildung und Rissausbreitung. Die "kritische Risslänge" wurde definiert und das "Leck-vor-Bruch-Kriterium" geboren. Die Wartungsvorschriften ("in-service-inspection") wurden auf ein hohes technisches  Niveau gehoben. Die technischen Spezifikationen für die Fertigung eines solchen RDB (welche zumeist in Japan erfolgt) besteht aus mehr als tausend Blatt Papier!

Die kerntechnische Community ist inzwischen von der Integrität de Reaktordruckbehälter während der Laufzeit überzeugt und rechnet ihr hypothetisches Bersten dem Restrisiko zu, das nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Bevölkerung zuzumuten ist.

Die unterschätzte Nachwärme

Wenn ein Kernkraftwerk nach längerem Betrieb abgeschaltet wird, dann vermindert es nicht schlagartig seine Leistung auf Null, sondern es produziert - ähnlich wie ein Küchenherd - noch eine geraume Zeit die sog. Nachwärme. Dies dauert in der Regel drei bis sechs Monate, währendessen der Reaktorkern sich ständig aufheizt, als wären dort einige zehntausend Tauchsieder installiert. Ursächlich dafür ist die radioaktive Strahlung, welche beim Durchgang durch den Uranbrennstoff diesen erhitzt. Um die Nachwärme gefahrlos abzuführen, werden die Kühlkreisläufe auch bei abgeschalteten Reaktor noch eine zeitlang (bei gedrosselter Fahrweise) in Betrieb gehalten.

Bei den havarierten Kernkraftwerken in Fukushima hat dies offensichtlich nicht funktioniert. Vermutlich beschädigte bereits das erste schwere Erdbeben am 11. März die Reaktorkühlkreisläufe so stark, dass sie den Betrieb aufgaben. Das für solche Ausfälle installierte Notkühlsystem war ebenfalls nicht funktionstüchtig, da die Notdiesel durch den nachfolgenden Tsunami weggeschwemmt wurden und somit keine Notstrom zur Verfügung stand. Der Reaktorkern wurde also über Stunden und Tage nicht gekühlt, sondern durch die Nachwärme immer mehr aufgeheizt. Schliesslich kam es in drei Reaktoren zu einer Kernschmelze; 30 bis 50 Prozent des Kernmaterials vermutet man auf dem Boden des Reaktortanks. Gleichzeitig wurden radioaktive Isotope wie Jod 131 und Cäsium 137 freigesetzt, welche das umgebende Gebiet kontaminierten und die Evakuierung vieler Menschen erzwangen.


Schemazeichnung der Reaktoren in Fukushima

Die Nachwärme, welche nur ca. ein Prozent der betrieblichen Leistung darstellt, wird in den kerntechnischen Sicherheitsanalysen meist recht stiefmütterlich behandelt. Dort stehen im Vordergrund die "grossen Störfälle" welche sich im vollen Reaktorbetrieb ereignen können, z. B. das Abreissen einer Hauptkühlmittelleitung oder das Durchgehen des Reaktors. Beispielhaft dafür ist das Standardwerk "Reaktor-Sicherheitstechnik" (D. Smid), erschienen 1979 im Springer-Verlag. Dort sind die von General Electric in Fukushima gebauten Siedewasserreaktoren zwar erwähnt, aber das Kapitel "Not- und Nachkühlsystem" umfasst gerade mal drei Seiten. In dieser komprimierten Darstellung findet sich kein Hinweis auf die dramatischen Störfallkonsequenzen, die oben beschrieben sind.

Auch das Risiko von Brennelement-Lagerbecken wird in den meisten Sicherheitsanalysen nur am Rande behandelt. In Fukushima befindet sich beim Reaktorblock 4 ein riesiges Becken mit 1.331 abgebrannten Brennelementen auf der Höhe des vierten Stockwerks, teilweise unter freiem Himmel. Brechen die Tragestrukturen (z. B. durch ein Nachbeben ) zusammen, so könnte es, wegen ausfallender Kühlung, auch heute noch zu einem ausgedehnten Brand mit massiver Freisetzung von radioaktiven Nukliden kommen.

Evakuierung versus "walk-away".

Das Stichwort "Evakuierung" vermisst man ebenfalls in den Registern der allermeisten kerntechnischen Veröffentlichungen. Dabei ist es eine der allerschlimmsten Folgemassnahmen bei katastrophalen Reaktorstörfällen; Tschernobyl und Fukushima haben das gelehrt. Hinzu kommen noch die nicht geringe Zahl verängstigter Menschen, die - obschon ausserhalb der Evakuierungszone - aus eigenem Antrieb fliehen und ihr Besitztum zumindest zeitweise aufgeben. Sogar die deutsche Botschaft in Tokio, ein jammervolles Beispiel, hat ihren Sitz derzeit nach Osaka verlegt.

Die grossen Entwicklungsfirmen für moderne Kernkraftwerke haben dieses Defizit früherer Anlagen gesehen und einen "supersicheren" Reaktor kreiert. Er soll unter allen Umständen sicher sein, selbst ohne Eingriff der Betriebsmannschaft. ("walk-away"-Prinzip). Volle zwei bis sechs Tage nach einem Störfall kann dieser Reaktortyp sich selbst überlassen werden, währenddessen er sich automatisch in eine sichere Betriebsposition steuert. Die Firma Siemens und der französische Partner Framatome haben in den neunziger Jahren (mit Unterstützung des Kernforschungszentrums Karlsruhe) den sog. "Evolutionary Power Reactor" (EPR)  entwickelt, welcher diese Sicherheitseigenschaften besitzen soll. Ähnliche Konzepte gibt es in Asien. Der EPR  hat ein doppelwandiges Containment aus Stahlbeton mit der Gesamtdicke von 2,6 Metern; der Reaktortank besitzt eine Wandstärke von satten 250 Millimetern. Ein keramisches Auffangbecken unterhalb des Reaktorkerns ("core-catcher" genannt) soll im Falle eines GAU die Kernschmelze aufhalten. Viele weitere Sicherheitsvorkehrungen müssen hier unerwähnt bleiben.


Die sogenannten Einwirkungen von aussen auf Kernkraftwerke

Zwei Kernkraftwerke vom Typ EPR werden derzeit in Finnland und Frankreich gebaut. Schon melden sich die Kritiker zu Wort, insbesondere aus England. Sie bestreiten u.a., dass das Containment dem Aufprall eines grossen Verkehrsflugzeug standhalten kann sowie dem nachfolgenden Brand von 100 Tonnen Kerosin und verweisen dabei auf die eingestürzten Türme des World Trade Centers in New York. Auch bei Kernschmelzen im Bereich des Fundaments könne es zu nicht beherrschbaren Dampfexplosionen kommen und sogar zur Verseuchung des Grundwassers. Ganz wird man diese Argumente nicht ausräumen können, da Forschungsexperimente im Massstab 1:1 eben nicht möglich sind. Auch Laborversuche mit Kernschmelzen sind ausserordentlich schwierig. Unbestreitbar ist aber, dass diese neuen Reaktorkonzepte einen riesigen Sicherheitsschritt, verglichen mit Fukushima Mark I, bedeuten. Dass bei ihnen Evakuierungen unter keinen Umständen mehr erforderlich sein werden, beruht aber auch auf einem Stück Hoffnung.

Umzingelt von Nuklearstandorten

Logischerweise sind die Folgemassnahmen bei einem sehr schweren Reaktorunfall auch abhängig vom Standort und der Anzahl von Kernkraftwerken oder  nuklearen Anlagen. Hier ist das vergleichsweise kleine und gebirgige Land Japan besonders gehandikapt. Die kerntechnischen Standorte liegen wegen der Kühlungserfordernisse fasst alle an der Küste, wo wegen der geologischen Struktur häufig starke Erdbeben zusammen mit Tsunamis auftreten können. Zieht man um die Metropole Tokyo mit ihren 30 Millionen Einwohnern einen Kreis mit dem Radius von 200 Kilometern, so befinden sich darin (jetzt schon) folgende Nuklearanlagen:

-  21 kommerzielle Kernkraftwerke,
-  11 Forschungsreaktoren,
-  3 Brennelementfabriken,
-  1 Wiederaufarbeitungsanlage,
-  1 Zwischenlager für bestrahlte Brennelemente.

Inzwischen hat die Regierung die Abschaltung dreier Kernkraftwerke (am Standort Hamooka) wegen unmittelbarer Erdbebengefahr verfügt; am Ausbau der Kernenergie auf das doppelte der jetzigen Kapazität hält sie jedoch fest. Das heisst: die gegenseitige Beeinflussung der Nuklearanlagen bei Störfällen steigt. Siehe Fukushima, wo aus einer Ursache heraus vier Kernkraftwerke zerstört wurden.

Ähnlich ist die Bilanz in der zweiten japanischen Metropolregion um die Grosstädte Kyoto, Osaka und Nagoya. Knapp hundert Kilometer von Kyoto entfernt befindet sich sogar ein  Kernkraftwerk vom Typ Schneller Brüter ("Monju").  Es ist mit Plutoniumbrennstoff gefüllt und wird mit 550 Grad heissem, flüssigen Natrium gekühlt.

Im Falle einer Havarie wäre Bespritzen mit Meerwasser nicht empfehlenswert.

1 Kommentar:

  1. Monju ist in sehr vielen Sytemen und Komponenten vergleichbar mit dem KKW-Kalkar in D, das nicht in Betrieb gehen durfte.
    Es wäre interessant so erfahren, ob Monju durch das Beben auch beschädigt wurde?

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