Sonntag, 22. Juni 2014

Leseprobe: "Ein Inder als Sünder"

Anbei eine Leseprobe aus meinem Buch "Meine Erlebnisse an deutschen Kernreaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen":

Ein Inder als Sünder


Als die KNK I mit Volllast, also mit 20 MWe in Betrieb gegangen war, erhielten wir einen Brief aus Wien von der International Atomic Energy Agency (IAEA), gemeinhin bekannt als die Atombehörde. Die IAEA kündigte an, dass sie einen technischen Experten nach Karlsruhe entsenden werde, der unser Kernkraftwerk in Augenschein nehmen solle. Zu solchen Kontrollbesuchen war die Behörde berechtigt und wir trafen alle nötigen Vorbereitungen, damit der Abgesandte einen positiven Eindruck von unserem Projekt mit nach Hause nehmen konnte.

Der Experte war unverkennbar ein Inder. Er wurde mit „großem Bahnhof“ von Betriebs- und Projektleitung empfangen und mit angemessener Entourage durch den Reaktor geführt. Ich erinnere mich noch deutlich, dass er sich insbesondere für die Lagerung der Kernbrennstoffe interessierte und immer wieder allerlei sachkundige Fragen zum Anreicherungsgrad des Urans in den Brennelementen stellte. Darüber hinaus wollte er wissen, wo wir den abgebrannten Brennstoff aufzuarbeiten gedachten. Er schien etwas überrascht zu sein, als wir ihm mitteilten, dass hierzu keine Pläne existierten, weil Deutschland (zur damaligen Zeit) noch über keine Wiederaufarbeitungsanlage verfügte.

Nach gut zwei Stunden schien er genug gesehen zu haben, er bedankte sich und strebte dem Ausgang zu. Bei einem Kernkraftwerk steht an dieser Stelle immer ein Kontrollmonitor, der jeden Besucher auf etwaige Radioaktivität untersucht. Eine Formalität in den allermeisten Fällen – aber nicht so bei unserem Inder. Das Strahlenschutzgerät schrillte nämlich auf, und zwar in einer Lautstärke, wie ich das selten zuvor gehört hatte. Offensichtlich hatte sich unser hochrangiger Besucher bei seinem Rundgang radioaktiv verseucht. Das war superpeinlich für uns, die wir ihn geführt hatten, denn wir hätten die Stellen kennen müssen, an denen man sich kontaminieren konnte. Der Inder – im Messapparat eingeschlossen – wurde rot im Gesicht und schien unmittelbar vor einem Wutausbruch zu stehen. Aber die Strahlenschutztechniker taten nur ihre Pflicht, indem sie ihn zentimeterweise abtasteten, um die Strahlenquelle zu lokalisieren.

Schließlich wurden sie fündig. Der Ausgangspunkt der Aktivität befand sich offensichtlich unten im Hosenaufschlag unseres Besuchers. Ja, man konnte die Strahlenquelle sogar mit bloßem Auge sehen, denn sie hatte die Größe eines halben Reiskorns. Vorsichtig wurde sie mit einer Pinzette aufgenommen und in ein Reagenzglas verfrachtet, worauf der Inder sogleich strahlenfrei war und aus seinem Gehäuse entlassen werden konnte. Er brummte etwas Unverständliches vor sich hin  und das anschließende Essen im Casino verlief ziemlich einsilbig.

Zwischenzeitlich waren unsere Strahlenphysiker nicht untätig, sondern untersuchten den Krümel nach allen Regeln ihrer Profession. Und als der Inder zur Verabschiedung nochmals zurückkehrte, erlebte er eine Überraschung. Die Experten hatten in der kurzen Zeit festgestellt, dass der Brennstoff nicht aus der KNK I stammen konnte, sondern nur von einem Schwerwasserreaktor und einer Wiederaufarbeitungsanlage. Beides existierte zur damaligen Zeit noch nicht in unserem Kernforschungszentrum. Wohl aber im indischen Madras, wo unser Besucher – wie er freimütig zugab – vorher bei einem Kontrollgang gewesen war. Dort hatte er wohl, nach eigenem Eingeständnis, das Partikel versehentlich aufgepickt und mitnehmen können, weil die indischen Strahlenmonitore offensichtlich nicht so empfindlich eingestellt waren wie die unsrigen. Unser indischer Freund entschuldigte sich wortreich bei der Betriebsmannschaft; wir haben ihn hinterher nie mehr in Karlsruhe gesehen!

1 Kommentar:

  1. Lieber Herr Marth,

    ich habe Ihr Buch vor kurzem gekauft, aber noch nicht angefangen zu gelesen - diese Leseprobe hat mich aber sehr motiviert, mich demnächst drauf zu stürzen.

    Vielen Dank auch für den unterhaltsamen Blog.

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