Sonntag, 15. November 2015

Der Bretschneider Salto

Der Sport ist in diesen Tagen in die Krise geraten. Überall scheint es Korruption, Drogenprobleme und andere Abscheulichkeiten zu geben. Selbst die Magie des "Sommermärchens" ist am Welken. Aber Halt! Bei den kürzlichen Weltmeisterschaften im Geräteturnen im schottischen Glasgow gab es ein Ereignis, das uns Deutsche wieder stolz machen könnte: Einem Turner unserer Nationalmannschaft, dem 26-jährigen Chemnitzer Andreas Bretschneider ist am Reck ein überragender Übungsteil gelungen. Dieses turnerische Kunststück ist so kompliziert, dass selbst die Chinesen, Japaner und Russen, welche derzeit das Geräteturnen beherrschen, vor Neid erblassen. Alle wollten sie diesen Salto kopieren, aber keinem ist es gelungen. Reihenweise purzelten sie vom Reck.

Das internationale Kampfgericht honorierte die Leistung des deutschen Turners, indem es diesen Salto als "Bretschneider Salto" im vergangenen Jahr in seine Punktetabelle (genannt: "Code de Pointage") aufnahm. Gleichzeitig verlieh es diesem Übungsteil die Wertigkeit von 0,8 Punkten, was derzeit den höchsten Schwierigkeitsgrad am Reck darstellt. Bislang gab es am Reck (und auch an den fünf anderen olympischen Geräten, nämlich Barren, Ringe, Seitpferd, Sprung und Boden) als Höchstnote für Einzelelemente nur die Wertung 0,6 Punkte.

Der Bretschneider Salto ist, fachmännisch gesprochen, ein doppelter gehockter Salto mit doppelter ganzer Schraube oberhalb der Reckstange. Über ein Standphoto ist er nur schemenhaft darstellbar; ich füge deshalb zum Schluss ein Video an. Ich will trotzdem versuchen, diese Weltschwierigkeit im Rahmen eines Blogs "verbal" zu erläutern. Dabei beziehe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen im Reckturnen, das ich - vor 60(!) Jahren - etwa zehn Jahre lang betrieb und wo ich zu einigen bescheidenen Erfolgen kam. (Oftmaliger Münchener Studentenmeister und Bayerischer Mehrkampfmeister).

Aller Anfang ist schwer

Der Ausgangspunkt für Flugteile am Reck ist immer die sogenannte Riesenwelle. Hier schwingt der gestreckte Körper um die Reckstange, was sehr ästhetisch aussieht, aber immerhin zwei bis drei Jahre intensives Üben voraussetzt. Dabei müssen die Hände die Reckstange sicher umfassen, denn auf Grund der Fliehkraft im unteren Übungsteil wächst das Körpergewicht dort um das Sechsfache an. Ein schmächtiger 60-Kilogramm-Turner wiegt also beim Durchgang in der Lotrechten für Sekundenbruchteile 360 Kilogramm. Damit man einerseits fest zugreifen kann, andererseits dabei keine zu starke Reibung verursacht, stäubt man sich die Hände mit "Magnesia" ein, einem weißen Pulver.


Riesenwelle mit Kehre als Abgang
(Münchener Studentenmeisterschaft)

Bevor man sich an einen Salto heranwagt, beendet der turnerische "Anfänger" seine Übung zumeist mit einer sogenannten Kehre. Dafür lässt man kurz vor dem oberen Punkt der Riesenwelle die Reckstange mit einer Hand los und versucht sodann elegant abzuschwingen. Da dies aus dreieinhalb bis vier Metern Höhe geschieht, ist die Landung zum sicheren Stand nicht ganz einfach. Beim Wackeln - oder gar bei einem Sturz - gibt es die bekannten "Strafpunkte" als Abzug.


Salto vorwärts mit halber Schraube als Abgang aus der Riesenwelle
(Bayerische Meisterschaften, Turnfreunde geben Hilfestellung)

Die nächste Stufe des Fortschritts ist der sogenannte Abgangssalto. Man beendet die Gesamtübung - welche aus 6 bis 8 Elementen besteht - mit einem Salto aus der Riesenwelle heraus. Dies kann ein Vorwärts- oder ein Rückwärtssalto sein. Geübte Turner fügen noch eine "Schraube" an, was eine Drehung um die Längsachse darstellt. Mein Reckabgang war häufig ein gehockter Vorwärtssalto mit halber Schraube. Er wurde in der 50er Jahren durchaus noch hoch bewertet. Nicht selten misslang mir aber die Landung zum sicheren Stand, was auch mit lausigen Matten der damaligen Zeit zusammenhing.

Vom Kovacs zum Brettschneider

Das Turnen oberhalb der Reckstange begründete 1979 der ungarische Kunstturner Peter Kovacs mit dem von ihm erstmals vorgestellten "Kovacs-Salto". Dieser, nach ihm benannte Flugteil ist ein Doppelsalto rückwärts gehockt über der Reckstange u.zw. aus der Riesenwelle heraus. Man kann sich die Abfolge der Griffe am besten vorstellen, wenn man die Ziffern einer Wanduhr zur Hilfe nimmt. Die Ausgangsposition ist "12 Uhr": der Turner steht im Handstand über der Reckstange. Er vollführt eine Riesenwelle, indem er die Ziffern 11, 10, 9 etc. durchläuft. Bei "1 Uhr" löst er seinen Griff, der Schwung treibt ihn hoch über die Reckstange, beim Herunterfallen auf der anderen Seite könnte er um ca. 11 Uhr wieder die Stange greifen. Diese (relativ einfache) Übung vollführt er jedoch nicht. Sondern, nach Lösen des Griffs um 1 Uhr, zieht er die Beine zur Hocke an und vollführt einen doppelten Rückwärtssalto hoch über der Reckstange. Danach streckt den Körper wieder, fasst um 11 Uhr wieder die Reckstange und setzt die Riesenwelle mit den folgenden turnerischen Elementen fort. Dieser Kovacs-Salto war damals eine Höchstschwierigkeit und erbrachte 0,6 Wertungspunkte. Heute wird er von einer ganzen Reihe von Turnern vorgeführt und nur mehr mit 0,4 Punkten belohnt.

Andreas Bretschneider turnt den Kovacs-Salto natürlich "im Schlaf". Deswegen kam ihm, vor etwa zwei Jahren, auch die Idee, diesen Doppelsalto rückwärts mit einer Doppelschraube um die Längsachse zu kombinieren. Nach eigenen Angaben gelang ihm dieses Kunststück anfangs nur achtmal - bei fast tausend Versuchen. Das Problem dabei ist, dass man bei der Durchführung der zweifachen Querdrehung - und der zweifachen Längsdrehung - zumeist die Orientierung verliert und diese Übungsteile irgendwie "vermanscht und verschwurbelt". Schlimmstenfalls kann man mit dem Gesicht auch auf die Reckstange fallen, was heftige Schmerzen verursacht. Das Trainingsziel von Bretschneider war also, seine Flugkurve so zu stabilisieren, dass jeder Versuch identisch ist und er - ohne zu schauen - stets die Reckstange in den Griff bekommt. Die Flugdauer vom Lösen von der Reckstange bis zum Wiederfassen beträgt nur 0,9 Sekunden. Schließlich, bei einem internationalen Wettkampf 2014 im chinesischen Nanning, funktionierte der "Bretschneider" tadellos, sodass er vom anwesenden Kampfgericht offiziell anerkannt und mit 0,8 Punkten bewertet wurde. Seitdem gelingt dem Turner Bretschneider "sein Bretschneider" in 80 Prozent der Fälle.

Die Weltmeisterschaft in Glasgow

Derart vorbereitet, konnte Andreas Bretschneider im Oktober 2015 frohen Mutes zur Turnweltmeisterschaft ins schottische Glasgow reisen. Er durfte sich zwar immer noch nicht mit Fabian Hambüchen, seinem deutschen Turnfreund, vergleichen, der eleganter turnt, technisch gut ausgebildet ist und viel Ausstrahlung besitzt. Aber mit seinem Supersalto lag der technische Wert seiner Reckübung bei 7,3 , was ihn aufs Treppchen bringen sollte. Jedoch nur, wenn sein Bretschneider Salto auch gelang.

Und der Bretschneider gelang! Am Anfang turnte Andreas den "echten" Bretschneider, danach noch zwei Mal mit nur einer Längsdrehung. Die Kampfrichter notierten schon den Bonus von 0,8 Punkten und alle folgende Elemente waren ebenfalls gut geturnt und von beträchtlicher Schwierigkeit. Aber beim Abgang vom Reck passierte das Unglück. Andreas hatte durch den Drehschwung zu viel Vorlage und musste zwei deutlich erkennbare Schritte machen, um in den sicheren Stand zu kommen. Das kostete ihm mindestens einen Haltungspunkt und der Bretschneider war dadurch "für die Katz". Auf dem Video sind diese Sequenzen gut erkennbar.

Andreas Bretschneider landete auf dem 4. Platz. Für eine Medaille muss er nun bis zu den olympischen Spielen in Rio warten.

Video zu Bretschneiders Reckübung bei der Weltmeisterschaft in Glasgow

1 Kommentar:

  1. Hochachtung Herr Marth, man entdeckt an Ihnen immer neue Seiten! Freundlichen Gruß und frohe Weihnachten
    Ihr treuer Leser Peter Engelmann

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