Sonntag, 3. Februar 2013

Gute Literatur darf alles

Seit Jahren wird in den Medien über die unappetitlichen Missbrauchsfälle an evangelischen und katholischen Schulen berichtet - ohne, dass es bislang zu einer wirklichen Aufklärung gekommen ist. An der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim wurde schon Ende der 1990er Jahre bekannt, dass dort Schüler seit 1970 von ihren Lehrern sexuell missbraucht worden waren. Ausgerechnet der (inzwischen verstorbene) Schulleiter Gerold Becker, der als "Reformpädagoge" gepriesen wurde, soll sich dabei hervor getan haben. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wurde nach ihrer Entdeckung zwar vereinbart, kam aber nie wirklich zustande. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Darmstadt die Ermittlungen wegen Verjährung eingestellt.

Sexuellen Missbrauch an anvertrauten Kindern gab es auch in praktisch allen 27 Bistümern der katholischen Kirche von Aachen bis Würzburg. Zwar hat Papst Benedict dem deutschen Erzbischof Robert Zollitsch (als Vorsitzenden der Bischofskonferenz) aufgefordert, den "Weg der lückenlosen und zügigen Aufklärung konsequent fortzusetzen", aber in der Zwischenzeit ist auch hier die Aufklärung versandet. Die beiden Beauftragten, der Trierer Bischof Stephan Ackermann und sein weltlicher Counterpart, der Kriminologe Christian Pfeiffer, mussten vor wenigen Wochen eingestehen, dass ihr Projekt zur Dokumentation der üblen Geschehnisse "geplatzt" ist. Ganz offensichtlich sträubt sich bei vielen Menschen die Feder, wenn sie Pädophilie, also den auf Kinder gerichteten Sexualtrieb Erwachsener, beschreiben oder auch nur dokumentieren sollen. Noch mehr angeekelt wären sie vermutlich, wenn sie sich mit Päderasten zu beschäftigen hätten, also Homosexuellen, deren Sexualempfinden besonders auf männliche Jugendliche gerichtet ist.

Vor diesem Hintergrund muss es verwundern, dass es ein literarisches Werk gibt, welches ausgerechnet dieses Genre (Pädophilie, Päderastie) zum Thema hat, welches aber unbestritten der Weltliteratur zugerechnet wird. Es wurde vor genau hundert Jahren, also 1913, verlegt und viele Generationen von Gymnasiasten haben seitdem daran Textanalyse betrieben, nicht selten im Rahmen des Deutsch-Abiturs. Ich will meine Blogleser nicht länger auf die Folter spannen, sondern Ross und Reiter frei nennnen: es ist die Novelle "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann. Sie erschien 1911 zunächst als Luxusdruck mit einer Auflage von hundert nummerierten Exemplaren und ab 1913 als Einzeldruck im S. Fischer Verlag.


Décadence in Venedig

Thomas Manns Geschichte vom Tod in Venedig kann man fast in einem einzigen Satz zusammenfassen: Ein älterer Münchener Schriftsteller macht eine Reise nach Venedig, wo er sich in einen polnischen Jungen verliebt und alsbald an Cholera verstirbt. Bei Mann sind es ca. hundertvierzig Druckseiten, sodass ich diese nicht ganz ernst gemeinte Kurzfassung etwas aufweiten möchte.

Anfang Mai 1911 unternimmt der für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München. Dabei kommt ihm die Idee zu einer Reise in den Süden. A. ist verwitwet, sein ganzes Streben ist auf Ruhm ausgerichtet. Seine künstlerischen Leistungen muss er sich allerdings mit viel Selbsdisziplin täglich neu erarbeiten. Von Triest aus reist er per Schiff nach Venedig, wo er sich von einem Gondoliere über die Lagune zum Lido bringen lässt.


                                                     Grandhotel Excelsior am Lido
                                                  (Mehrfach in der Novelle genannt)

Im Hotel sieht A. am Tisch einer polnischen Familie einen langhaarigen Knaben "von vielleicht vierzehn Jahren", der ihm als "vollkommen schön" erscheint. Sein Name ist Tadzio. Mit jedem Tag verfällt der alternde Dichter mehr und mehr dem Anblick des Jünglings. Das 4. Kapitel endet mit dem Eingeständnis, dass er den Knaben liebe. Von Indien kommend erreicht eine Cholera-Epidemie Venedig. Trotz Warnung des Reisebüros beschliesst A. in der Lagunenstadt zu bleiben, um seinem Angebeteten weiterhin nahe zu sein. Allmählich verliert der Schriftsteller alle Selbstachtung. Um Tadzio zu gefallen, lässt A. sich vom Coiffeur des Hotels auf jung schmincken und seine Haare färben. Infiziert durch überreife Erdbeeren stirbt Aschenbach an Cholera, während er Tadzio ein letztes Mal sehnsüchtig am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden, als winke ihm der Knabe von weiten zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene Meer. "Und wie so oft machte er sich auf, um ihm zu folgen".


Form vor Inhalt

Vom Inhalt her, und platt gesagt, ist der Tod in Venedig die Geschichte einer obsessiven Knabenliebe. Daneben zelebrierte der Autor, den man unschwer in der Gestalt von Gustav von Aschenbach erkennt, noch sein "Coming-out" als Homoerotiker. (Ehefrau Katia wird das längst geahnt haben, doch wegen ihrer damals bereits geborenen vier Kinder darüber hinweg gesehen haben.) Man muss sich fragen, warum Thomas Mann das Risiko einging, ein so heikles Thema zu bearbeiten. Immerhin war die Ära von Kaiser Wilhelm II in Fragen der Sexualmoral keineswegs liberal sondern eher prüde bis streng. Und, dass die Novelle nicht nur ein Verkaufserfolg bei den Buchhändlern wurde, sondern (bis heute) auch noch als Schullektüre benutzt wird, ist ebenfalls erstaunlich. Wäre Thomas Mann sein Werk nicht gelungen, so hätte er als Päderast dagestanden. Schlimmeres konnte man damals und auch heute - abseits von Antisemitismus - über einen Menschen kaum sagen.

Nun, ein Grund für die sofortige und allgemeine Akzeptanz dieser Novelle ist sicherlich die ausserordentliche Behutsamkeit mit der Mann sein Thema bearbeitet. Im bürgerlich-moralischen Sinne bleibt der Held unversehrt. Aschenbach spricht mit dem schönen Knaben kein einziges Wort, er berührt ihn nicht, ja er nähert sich ihm noch nicht einmal (im Sinne von "stalking").Die ganze Geschichte, das ganze Erlebnis, ist also nur eine erotische Gefühlsausschweifung, eine Gedankenspielerei. Das Leben ein Traum! Und die erotischen Phantasien werden vom Dichter Thomas Mann mit äusserster Kunstanstrengung, garniert mit unverfänglichen Anspielungen auf die griechische Antike, gewissermassen pulverisiert. Im bürgerlich-moralischen Sinne ist das äusserliche Verhalten des Schriftstellers Aschenbach also immer "korrekt". Der Literaturkritiker Alfred Kerr, sonst kein Freund von Thomas Mann, hat dies klar erkannt, wenn er feststellte: "Jedenfalls ist hier die Päderastie annehmbar für den gebildeten Mittelstand gemacht". Und sein Kritikerkollege Carl Busse urteilt: "Ohne Zweifel wird man das Thema peinlich finden, aber man muss bekennen, dass es mit vorbildlicher Zartheit behandelt wurde".

Um zu dieser Überfeinerung des Stils zu kommen, der den Inhalt der Novelle praktisch zweitrangig werden liess, soll Thomas Mann zur Vorbereitung fünf Mal Goethes Roman "Die Wahlverwandschaften" durchgelesen haben, in dem es auch von symbolischen Verweisen nur so wimmelt.

Fürwahr eine gewaltige Anstrengung um die Maxime L´art pour l´art zu erreichen.




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